Manchmal nahmen sie die Grimmvettel mit, wenn die zu Besuch war, und der Junge hörte sie zu dritt lachen, wenn sie am späten Abend zurückkamen, und sich über die Darbietungen lustig machen, denen sie beigewohnt hatten.
Kunst! Die glauben im Ernst, das wär Kunst, was sie da machen! Haha! Haha-hahaha!
Sie war so schlau, ihre Verachtung zu verbergen, die Pferdeschnauzige, sie begann —
Ja, darum geht es.
Womit sie jetzt begann.
Konzert um Konzert, Darbietung um Darbietung, begann sie ihre Größe zu entdecken. Ich bin ja wirklich groß! erkannte sie. Die machen da, und für mich! Ich bin hier, zu urteilen! Die machen bloß, aber ich urteile! Ich bin ja viel größer als die alle. Demütig unterbreiten die meinem Urteil ihre Darbietungen.
Und sie fing an, in ihren Kritiken die Größe ihrer Urteilskraft herauszustellen.
Nein. Nicht die Größe. Die Tiefe.
Wort um Wort, Absatz um Absatz ritt sie sich tiefer in den Sumpf hinein. Sie entdeckte die Kunst der Selbstdarstellung. Kritik ist, so erkannte sie in einem Augenblick atemloser Erleuchtung, wenn ich zeige, wie tief ich das alles sehe! Wie tief mein Urteil ist! Wie überlegen!
Es fing wohl damit an, dass sie in der Kritik eines Kollegen, eines von denen, die die Konzerte in der Philharmonie beurteilen durften, das Wort „aufhorchen“ las. Sie machte es sich sofort zu eigen, denn darauf war sie angewiesen. Was halfen ihr Gedanken, was nützten ihr Begriffe. Worte braucht der Journalist. Gleich in ihrer nächsten Kritik, eines Orgelkonzerts, schrieb sie: Schon die ersten Töne ließen aufhorchen.
Da stand es, und erst, als sie es hingeschrieben hatte, merkte sie, was sie da hingeschrieben hatte. Nicht über das Konzert mehr hatte sie geschrieben, sondern über das größte, das einzige Thema überhaupt: über sich selber. Wie sie aufgehorcht hatte. Alle Welt wusste jetzt, sie war eine, die aufzuhorchen vermochte. So sensibel war sie! So tief.
Das hab ich ja alles ganz falsch angepackt, erkannte sie. Erkannte es nicht in Worten, so weit war es mit ihrer Selbsteinsicht nicht her. Erkannte es an dem Schwellen in ihrer Brust. Das hab ich falsch angepackt. Hab mir Mühe gegeben, über die auf dem Podium zu schreiben! Kein Wunder, dass ich mich schwergetan habe! Das ist doch gar nicht das Thema! Meine Größe ist das Thema! Meine Tiefe! Meine Größe und meine Tiefe, darum geht es doch! Über mich muss ich schreiben! Was ich empfinde!
Das Ganzstiefelvieh neben ihr rodomontierte höhnend nach jedem Konzert, wie lächerlich alles gewesen sei, wie man über diese Dilettanten nur den Kopf schütteln könne, diese Dilettanten und ihren Größenwahn! Wie die sich an der Kunst vergreifen!
Theateraufführung in der Schulaula! Und das eintretende Ganzstiefelvieh sah die Wände hinauf und pfiff: Die denken, sie haben hier Paläste! Paläste!
Das war immer sein Ding. Er wusste genau, was andere denken, wusste es denen auf den Kopf zu. Und dann legte er haargenau dar, wie falsch das alles sei, was die wussten. Er machte das jeden Tag mit seinem Jungen.
Du denkst jetzt, da hast du was ganz Großes, wenn du das liest. Du denkst jetzt, da bist du was gaanz gaaanz Großes, wenn du das liest. Du denkst jetzt, ich bewundere dich, denkst jetzt im Ernst, ich denke, der ist ja was gaanz Großes, dass er das liest. Aber das kennichdochlängs. Das weißt du ja gar nicht. In Wahrheit bist du bloß ein dummer Junge, ein gaanz gaaanz dummer Junge.
Das war ihm ein besonderes Anliegen, nahezu täglich versicherte er seinem Jungen, der sei bloß ein dummer Junge, ein gaanz gaaanz dummer Junge.
Gegenwehr war nicht möglich, Widersprechen war nicht möglich, schon ein abständiger Blick hätte kreischdreschen Überfall provoziert, aus dem Stand heraus, über den Abendbrottisch hinweg.
Die Pferdeschnauzige tippte in ihre Maschine, und allmählich ging ihr das Schreiben leichter von der Hand. Sie dachte, sie erarbeite sich langsam eine gewisse Routine. Sie kam nicht auf den Gedanken, dass die zunehmende Flottheit ihrer Schreibe etwas damit zu tun haben könne, dass der Karren abwärts immer schneller rollt als aufwärts.
Auf der schiefen Bahn.
Die Formulierungen begannen ihr zuzufliegen, alles meins, dachte sie, sie reproduzierte die Schwätzereien des Ganzstiefelviehs und die Journalismen der Kollegen, die in den philharmonischen Palästen zugange waren und in den „richtigen“ Theatern, und dachte bei jedem Wort, alles meins. Sie frohlockte über die idiotischsten Formulierungen. Sie erfand und fingierte. Nichts, was sie schrieb, hatte noch irgendetwas mit dem zu tun, was sie hörte oder sah. Niemand verlangte einen solchen Zusammenhang, sie war Journalistin. Sie schrieb, was ihr gerade einfiel, und was sie schrieb, wurde gedruckt, denn das Blatt musste gefüllt werden.
Immer deutlicher wurde die Gestalt sichtbar, die sie zuvor nur undeutlich gesehen hatte, die Gestalt ihrer Größe. Erkenntnis wuchs. Vorher war sie die verhinderte Größe gewesen, welch eine Künstlerin wäre aus mir geworden. Jetzt dämmerte Einsicht auf: Ich hab mich ja selber verkannt! Ich BIN groß! Das hab ich ja immer gewusst! Wie konnt ich mich nur so verkennen! Bin groß! Bin Beurteilerin! Die da auf der Bühne auf dem Podium, die machen bloß, ich aber urteile! Aus meiner Tiefe heraus! Die wissen ja gar nicht, was sie da machen! Ich aber weiß! Ich fühle!
Sie fühlte „eine Ahnung von großer Kunst hereinwehen“. Plötzlich „werden Architekturen sichtbar, in all der kunstlosen Gestaltung hebt sich unzerstörbar große Tradition.“
Sie schrieb hin die Sätze, die ihr groß zu klingen schienen. Bei denen sie schwoll, das ist Ich, dachte sie, das ist ganz Ich.
Sie fand nicht einen originellen Satz, alle Sätze, die sie schrieb, waren abgeschrieben. Abgeschrieben aus dem tausendfach schon ausgelutschten Gerede anderer Journalisten, Strom des Gefasels, strudelnd durch die Jahrhunderte. Manches war auch Geschwätz, das hatte sie von den Schmierenhelden gehört, die die Schauspielschule geleitet hatten, und die wieder hatten es irgendwo gelesen, bei Journalisten vermutlich. Tat ja nichts. Sie nahm die Worte, wie sie sie brauchen konnte. Sie nahm die Worte, die ihr gut zu klingen schienen. Gut klangen ihr alle Worte, in denen ihre Größe widerhallte. Ihre Kosmosmittigkeit. Die unvergleichliche Tiefe ihrer Gefühle. Was sie wieder gefühlt hatte, sitzend in diesem Konzert! Das wusste ja niemand, das verstand ja niemand, diese Tiefe! Aber jetzt schrieb sie es auf. Um ihre Tiefe ging es, und um die Gewalt ihres Fühlens. Das Konzert, die Darbietung, die Theateraufführung, was sollte das. Alles nur Anlässe. Anlass zur Darstellung ihrer Größe ihrer Verkanntheit ihres Leidens.
Die macht sich, hieß es in der Redaktion. Die schreibt sich langsam frei.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)