In der Industriestadt war das Konzert- und Theaterleben von ganz anderem Zuschnitt als in der Stadt am See. Die Industriestadt grenzte an Nachbarstädte, und diese wieder an Nachbarstädte, ohne Unterscheidung ineinanderfließend. Der Junge, heranwachsend, begann die Labyrinthe zu lieben, das Versteckgewinkel der gekrümmten Straßen, in deren Anlage noch die Grundrisse der ursprünglichen Dörfer schläferten. Da und dort, mitten im Häusertumult, verirrte man sich zuweilen hinein in Wiesen und Felder, oder kleine Wäldchen, das Blättergrün schwappte ganz unvermittelt gegen die backsteinernen Wände aufgelassener Fabrikhallen, oder war da noch Leben drin? alles so still, und Kräuter winkend am Fuß der Mauern! und dahinter schepperten schon wieder die Schienenchöre der Straßenbahn. Zur Nacht flackerten die Himmel, rot vor Zorn, die Eisengießereien waren noch in Betrieb, nicht mehr lange, die Ablösung des stählernen Zeitalters durch das elektronische stand kurz bevor, noch wusste niemand davon. Heilige Gewölbe gähnten an allen Ecken, und auf den Emporen wurde fleißig musiziert, Orgelkonzerte wurden gegeben, fromme Chöre sangen, was die Staublunge nur hergab. In den vorstädtischen Gemeindehallen zeigten die lokalen Künstler, was sie konnten, und das war oft gar nicht so wenig. Die zugereiste Schwindlerin hätte hier Demut lernen können, in aller Stille. Hätte das Ding anpacken können, wie ich schon sagte. Hätte in sich gehen können und sich sagen, ich habe doch keine Ahnung, wer bin ich schon, ich muss den Schwindel aufrecht erhalten, ich lebe davon, aber jetzt will ich wenigstens das Beste daraus machen, will lernen und mich kundig machen, damit ich weiß, wovon ich rede, damit ich den Menschen Gerechtigkeit widerfahren lasse, denn darum geht es, um die klare Einsicht, was können die, was kann ich.
Wasserscheide, Wegscheide. Sie hätte ernst werden können, indem sie aufgehört hätte, sich selber ernst zu nehmen. Sie hätte ganz heiter sich eingestehen können, ich bin eine Idiotin, eine Maulheldin, verheiratet mit einem Maulhelden, wir haben uns die ganze Zeit bloß gegenseitig bestärkt, damit ist jetzt aber Schluss, ich will ehrlich werden. Mich selber ehrlich machen.
Sie hätte anfangen können zu lernen. Sie war angeheuert worden, über das Musikleben der Vorstädte zu berichten, das war ihre Jobbeschreibung. Sie hätte sich hineinstürzen können, die lokalen Künstler kennenlernen, die waren dran interessiert, auch einmal in der Zeitung zu stehen. Es gab ein Symphonieorchester vor Ort, das war zu einer Zeit gegründet worden, da die Eisengießereien der Stadt gewaltig in Schwung sich befunden hatten, und also die Industriebarone und ihre federhutgeschmückten Frauen Kultur nicht nur hatten haben wollen, sondern sie sich auch hatten leisten können. Die Musiker des Orchesters gaben in den Stadtteilen gerne Konzerte auf eigene Faust, Kammermusik, der Junge lernte eine Harfenistin kennen, die halbtags die Musikabteilung in der Stadtbücherei verwaltete und ansonsten, wo sich nur die Gelegenheit bot, auf Gemeindefeiern ihre Saiten zupfte. War einiges los in der dreckigen Industriestadt, und die junge Journalistin war berufen, darüber zu berichten. Auf Schulpodien wurde musiziert, und in den Stadthallen. In den Betrieben gab es Werkschöre, die traten gern auf in Bergmannstracht, Traditionen aufrecht erhaltend, die bald untergehen sollten.
Wisse, wovon du redest, hätte die Pferdeschnauzige sich als Imperativ aufs Brett überm Bett malen können, auch wenn sie dafür im falschen Beruf war.
Sie war im falschen Beruf, sie trudelte die schiefe Ebene hinunter, tut nichts, SIE ist langmütig, das Menschtier kann sich so dumm anstellen wie es will, es kann umkehren. Jederzeit.
Kehrte sie um, die Pferdeschnauzige?
Das erste Gefühl, dem sie sich ergab, war das Gefühl einer überwältigenden Demütigung. Überall kleine Leute, und die konnten was. Die Harfenistin zupfte ihre Saiten, die Bergleute in ihrer Tracht sangen mehrstimmig. Möglicherweise schließt ihr jetzt, die Demütigung der Pferdeschnauzigen rührte aus der Konfrontation, aus der heilsamen Einsicht, ich kann nichts, gar nichts. Solche Demütigung hätte führen können führen sollen zu Demut.
Nein, das denkt ihr nicht, ihr wisst ja schon, wie die Geschichte weiterging, nun wisset auch, wie sie anfing.
Denn der moralische Untergang der Pferdeschnauzigen, hier, in dieser verrußten Industriestadt, begann er richtig. Der Größenwahn in der Schauspielschule, die Herbeiführung der Schwangerschaft, um Scheitern und Unfähigkeit zu bemänteln, selbst das schwindelhafte Abschreiben in der Lokalzeitung, das alles war nur Vorgeplänkel gewesen. Moralische Verirrungen eines Kindes. Wir können das großzügig übersehen. Welch Menschtier ihr begegnete, nannte sie eine größenwahnsinnige Kröte, bösartig und verkommen. Und die solches sagten, waren noch nicht einmal in der Wohnung, wenn sie ihren Jungen zusammenschlug. Ihr aber, ihr könnt Abstand wahren und sagen, sie war noch ein Kind. Sie hätte immer noch umkehren können.
Warum fühlte sie sich so gedemütigt?
Über so was muss ich schreiben! höhnte sie gemeinsam mit dem Ganzstiefelvieh. Die denken, sie machen hier Kunst! Die wissen doch gar nicht, was das ist, Kunst!
Sie fühlte sich gedemütigt, weil sie in die Vorstädte geschickt wurde, in die Kirchen und Stadthallen. Für die philharmonischen Paläste, verstreut in den Stadtlabyrinthen, waren andere zuständig. Sie saß, inmitten der ehrenamtlich zurechtgerückten Bestuhlung eines Gemeindesaales, und lauschte den Darbietungen eine Schulchors, starr vor Ablehnung. Höhnisch. Die glauben auch noch, das wär was, was die da machen! Das Ganzstiefelvieh, neben ihr sitzend, stieß ironisch die Luft durch die Nase. Sie tauchten immer zu zweit auf, denn Pressekarten wurden grundsätzlich für den Kritiker mit Begleitung ausgegeben, da ließ man sich nicht lumpen. Und die Kritikerin sah die kleinen Leute machen, was sie nicht konnte, und reagierte auf die Demütigung, indem sie ihrem Hochmut die Sporen gab.
Leg ruhig einen Zahn zu, flüsterte der Lederflüglige ihr zu, du bist auf dem rechten Weg, mein Kind.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 14.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)