Im zweiten Wagen saßen Eluard und Waldemar zusammen, sie hatten hinten die Plane geöffnet und blickten hinaus auf die zurückweichende Landschaft.
„Grand Mère wird sie wieder gesund machen“, erklärte Waldemar mit Bestimmtheit.
„Wirklich?“ fragte Eluard.
„Ganz sicher“, antwortete Waldemar.
Ich habe Angst, hätte Eluard gern gesagt, aber er wusste die Worte nicht, er fürchtete ja für sich selber, war das selbstsüchtig? In einem Dorf, einmal, hatte er einen Fieberkranken gesehen, dem war die Krankheit auf die Augen geschlagen, blind war er, und wälzte sich umher auf dem Lager und schrie mit heulender Stimme, zwei Männer mussten ihn festhalten, oh nein, das war kein Mensch mehr, zum Tier war der zurückverwandelt, in etwas Bestialisches, Schreiendes, aus stinkendem Abgrund heraufgeholt, das lag auf dem Lager, kotbeschmutzt, mit versträhnten Haaren, und heulte und zuckte und suchte auszubrechen, mit seinem Dreck und seiner Finsternis einzuschlürfen die Welt, Eluards Welt, die zerbrechliche, angstvolle.
Das kreischende Tier.
Später war der gesund geworden, und Eluard musste mit ihm umgehen, doch schlug ihm immer das Herz bis in den Hals, denn nie war sicher, ob aus dem bleichen Gesicht nicht das Tier wieder ausbrechen würde, jede Sekunde war das doch möglich, mit kreischendem Gezucke, und Gestank wolkte auf.
Waldemar hatte zu Magdalena gehen wollen, am Morgen, aber Inge hatte ihn zurückgehalten, nein wirklich, du störst da nur, das musst du verstehen, und Grand Mère hatte eingeworfen, nein, lass ihn, und also konnte er doch zu ihr, aber sie schlief, Schweißperlen auf dem blassen Gesicht, mit hektischen roten Flecken … und er hatte sie eine Weile betrachtet und ihren Arm festgehalten, und sie dann geküsst, da hatte sie sich unruhig hin und her geworfen und Unverständliches gemurmelt, also war er wieder gegangen.
„Ich war auch mal krank“, sagte Waldemar stolz, „und sie haben sich große Sorgen gemacht, ich hab Fieber gehabt und Husten und Schnupfen, jawohl … Und du?“
„Ja …“ antwortete Eluard leise. „Aber ich hab wieder vergessen, wie das war, weißt du …“
Waldemar nickte, jaja, er wusste, so war das, man vergaß es schnell wieder.
Vorne, auf dem Kutschbock, sagte Inge zu Roger: „Hoffentlich macht Grand Mère das richtig …“
„Aber ja“, antwortete Roger beruhigend, „du weißt doch, wie sie ist, sie ist die Vernünftigste von uns allen …“
„Du hast recht“, sagte Inge, voller Angst, „bestimmt, sie weiß, was sie tut …“
Und sie drängte sich dicht an Roger und hielt sich fest an ihm und murmelte: „Ich hab Angst … wir müssen zusammenhalten, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Roger, „das müssen wir … das tun wir doch auch …“
„Ja“, wiederholte Inge und hörte nicht auf, sich an ihm festzuhalten, „das tun wir …“
Grand Mère kam erneut nach vorne gekrochen und streckte den Kopf zur Plane hinaus.
„Wo sind wir?“ fragte sie, und fügte hinzu, auf Aslans unausgesprochene Frage: „Sie schläft jetzt.“
„Schau mal da vorne“, sagte Aslan, mit einem Winken des Kinns die Richtung weisend.
Da wartete ein langgestreckter, dichter Wald aus alten Bäumen, sattgrün und vielfingrig die Blätter, die rauschten; so dicht war das Laub, dass schwarzer Schatten herrschte zwischen den Stämmen, oh, sie waren so voll, diese Bäume, so reich, dass man wünschte, von ihrer Fülle aufzunehmen, mit ausgebreiteten Armen, sie würden geben, schenken, das würden sie, denn sie konnten es, spenden aus dem Überfluss …
„Das sind Kastanien“, sagte Grand Mère und staunte.
Aslan nickte. „Selten sieht man sie, und groß ist ihre Pracht … In Italien, weißt du, habe ich welche gesehen, deren Früchte kann man essen …“
„Wirklich?“ fragte Grand Mère, mit Interesse.
„Ja“, bestätigte Aslan, „braten kann man sie und kochen, doch gedeihen sie bei uns nicht, zu kalt sind hier die Winter …“
Grand Mère schaute nachdenklich hinüber in den sattgrünen, rauschenden Reichtum. „Groß sind die Wunder Europas“, sagte sie dann, „und ist kein Ende der Fülle.“
Hinten sagte Inge: „Sind wir immer noch nicht da …“ Und sie weinte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)