Wie die Dinge lagen, waren die, so sich an ihm den Hintern abwischten, auch immer die, die Recht bekamen und Recht behielten. Im Alter hörte er auf, die noch zu zählen, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte über ihn hinweggetrampelt waren.
Wenn er im Klassenloch aufgerufen wurde und Rede und Antwort stehen sollte und wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte und also vorgeführt wurde, hörte er das Gemurmel ringsum: Der wieder. Die Murmler, wenn sie etwas nicht verstanden hatten, rannten zu Hause zuversichtlich zu Mama und Papa und fragten und bekamen Antwort. Es standen Wörterbücher und Lexika im Regal. Mit Wörterbüchern und Lexika ging der Junge in der Bibliothek um, leidenschaftlich, aber er fragte immer nur nach Dingen, die ihn interessierten, und was immer in der Schule gelehrt wurde, er lehnte es ab. Er hasste es. Als Erwachsener dachte er sich manchmal, wenn er etwas nachlas: Das muss doch in der Schule gelehrt worden sein? Wenn ich damals aufgepasst hätte, wüsste ich das. Aber er hatte eben nicht aufgepasst, sein Abscheu war mit der Zeit unüberwindlich geworden. Er nahm an, dass alles, was in der Schule gelehrt worden war, entweder überflüssig oder Lüge gewesen sei. In der Tat war von den meisten Dingen, die ihn wirklich interessierten, in der Schule nicht die Rede gewesen, nicht von dem Unnachahmlichen, nicht von seinem Klavier, aber die eine oder andere nützliche Information hätte er eben doch mitnehmen können, und musste als Erwachsener dann nicht nur das Ungelernte nachholen, sondern auch noch den nachwirkenden Ekel überwinden: Das war doch Schulstoff!
Hätte die Pferdeschnauzige sich zu ihrer eigenen Unwissenheit bekannt, dann hätte sie sich mit ihrem Jungen beraten können, wie man sich kundig mache. Dies alles geschah lange vor Erfindung der elektronischen Spielzeuge. Bibliotheken waren der Ort, wo man sich Auskunft holte. Bücher waren die Werkzeuge. Der Junge ging in den Bibliotheken ein und aus. Er wusste, wie man den Nachschlagewerken Fragen stellte und Antwort entlockte. Er wäre seiner Mutter Mitverschwörer geworden. Sie hätten sich gegenseitig weiterhelfen können. Sie hätten gemeinsam die Köpfe in Nachschlagewerke stecken können.
Hätte. Hätte. Hätte.
Aber unmöglich wäre das nicht gewesen. Das Menschtier kann umkehren, jederzeit, die Pferdeschnauzige war ein Menschtier, also –
setzt die Lösung selber ein.
Sie entschied sich anders, in ihrer Freiheit.
Als sie, aus ihrem seitlichen Rinnsal heraus, in das Schwindelmeer des Journalismus eingespült wurde, war ihre Unwissenheit, war ihre infantile Selbstbezogenheit zu grell gewesen, als dass sie die Lügner hätte durchschauen können. Aber sich selbst als Schwindlerin zu erkennen: das hätte ihr möglich sein sollen. Vielleicht hatte sie ja aus lauter Angst angefangen zu fälschen, sie hatte den Auftrag bekommen, einen ganz alltäglichen Auftrag im Milieu, ein paar Zeilen zu schreiben, um eine halbe Spalte zu füllen, damit die Seite voll wird! und sie hatte sich nicht einmal hingesetzt, auch nur den Versuch zu machen, hatte statt dessen einen Glimmstängel nach dem anderen eingefaucht, puterrote Wut, und dann hatte sie abgeschrieben, nicht etwa aus dem Buch, das der Junge viele Jahre später in der Bibliothek fand, sondern einfach aus einer ihrer Frauenzeitschriften, aus einer noch ziemlich tagesfrischen obendrein, die sich ebenfalls, allerdings unter Namennennung, bei dem populären Schreiber bedient hatte – deshalb war sie ja aufgeflogen, die junge Volontärin, denn die Frauenzeitschriften wurden auch von anderen Käuferinnen gelesen, nicht einmal das sich klarzumachen, reichte ihr der Verstand, irgendwann, nachdem sie, kühner werdend, das Ding ein drittes viertes fünftes Mal gedreht hatte, ging ein Leserbrief ein bei dem Chefredakteur, mit einer gutgelaunten Anfrage, mit der guten Laune des Chefredakteurs war es dann vorbei, gegenüber der Leserbriefschreiberin wurde das Namenskürzel unter den Beiträgen mit einem technischen Versehen erklärt, aber die kleine Familie zog um in die Industriestadt, wo man die Wohnung über der Einkaufsstraße fand, mit dem Aufzug und dem Balkon und der Mumie, nun ja, und so weiter.
Sie lernte, die Pferdeschnauzige. Aber nicht die richtigen Dinge. Ich darf so was nicht noch mal machen, erkannte sie.
Warum darf ich so etwas nicht noch mal machen? Weil es falsch ist? Nein, weil ich damit auffliege.
Das Menschtier tut zuweilen schon das Richtige, aber darauf kommt es nicht an. Es muss das Richtige auch aus den richtigen Gründen tun. Ich denke, das muss ich nicht weiter begründen.
Seltsam, dass sie sich das untereinander immer wieder vorwerfen. Der eine dem anderen, gegenseitig, nie sich selber. Dass diese Politikerin da die richtige Maßnahme getroffen hat, okay, geschenkt, aber in Wirklichkeit hat die das ja nur gemacht, weil — und dann geht es los.
Kam in der Klassenkloake heraus, der Junge hatte eine Menge Bücher gelesen, der Junge konnte Klavier spielen, so leidlich, dann bekam er zu hören: Okay, geschenkt, aber das macht der doch bloß, um uns zu beeindrucken! Sitzt da irgendwo in seiner Ecke und murkst rum, und dann denkt er, wir bewundern ihn! Da drum geht es dem!
Hätte die Pferdeschnauzige, als ihr der Auftrag wurde, den Zeilenfüller zu schreiben, ihrem Chefredakteur einbekannt, ich weiß nicht, wie das geht, hätte der wahrscheinlich väterlich gesagt, setz dich hin, Mädel, fang einfach an zu schreiben, das machen wir alle so. Sie war außerstande, zu irgendjemandem hinzugehen und zu sagen: Ich kann das nicht. Und als die Industriestadt erreicht war, tat sie sich zunächst mal selber leid. Dieser Dreck! Die Menschen! Und alles so grau hier!
Die kleine Stadt mit der Lokalzeitung, in der sie als Fälscherin aufgeflogen war, war in der Tat hübscher gewesen, an einem hellen See gelegen, auf dem im Sommer die weißen Segelboote schwammen.
Am Ufer schwappten Tretboote, für die Touristen. Der Junge war noch klein gewesen, er verstand, mit einem Segel würde er nicht umgehen können, aber sich in ein Tretboot setzen und treten, das müsste sich meistern lassen.
Fliehen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)