Kunstrichter

Was immer die Pferdeschnauzige hätte anpacken wollen, sie hätte sich erst einmal eingestehen müssen, ich kann das nicht. Kein Menschtier fängt an zu lernen, es wisse denn, ich kann das nicht. Tautologie. Wo immer die Pferdeschnauzige auftauchte, sie schob den Prahlglanz vor sich her, ich kann das alles. Sie konnte Klavier spielen, sie konnte singen, auf professionellem Niveau, sie konnte mehrere Fremdsprachen, sie kannte die Literatur aller Zeiten und Völker, und wann immer die Rede auf ein Buch kam auf einen Film auf ein Theaterstück, worauf immer, ihre schnelle Rede war: Kennich. Vorgetragen in erhaben belästigtem Ton, der sagte, darüber reden wir nicht, das sind ja die Voraussetzungen, davon gehen wir aus, bei einem gebildeten Menschen. Vereinsamung war die notwendige Folge, sie lebte in der Angst, aufzufliegen. Sie konnte nicht einmal einem Hausfrauenchor in der Vorstadt beitreten, sie hätte nicht mithalten können, und die Weiber wären neugierig geworden und hätten angefangen, Fragen zu stellen, und hätten angefangen zu reden.

Was, die kann nicht einmal die einfachsten Melodien mitsingen, und dann stellt die sich hin und ist für die Zeitung Musikkritiker?

Den Qualitätsjournalisten (sie nannten sich damals noch nicht so) war der Widerspruch bewusst. Wer beurteilt, so trabten sie hoch, muss die Sache, über die er urteilt, nicht unbedingt selber können, schon gar nicht besser können.

Aha?

Nein! Das Kunstrichtertum ist eine eigene Form von Kunst, überlegen und nur den erlesensten Geistern zugänglich. Es braucht die Gabe der Unterscheidung, das hochsensible Gefühl für Nuancen, die Fähigkeit zum Vergleich und zur Einordnung. Der Kritiker ist selbst ein Künstler. Strebt nach dem Unmöglichen! Ist nie zufrieden, ist stets auf dem qui vive, lauscht und wägt mit seinem zitternden Gefühl für hauchfeine Differenzen. Er leidet, der Kritiker, oh ja, wenn ihr wüsstet, wie er leidet. Um sich herum die grobe Masse, die ist mit allem zufrieden, der Kritiker aber fühlt den Stachel des Anspruchs, der treibt ihn weiter, zu immer neuen Horizonten, die schaut nur er. Deshalb ist er immer vorweg. Wo immer der sogenannte Künstler keuchend ankommt, da ist der Kritiker schon gewesen, und ist weitergeeilt, leidend an seinem Ungenügen. Suchend! Immer auf der Suche nach dem Wirklichen! Dem Echten! Wenn er dann sitzt, sich stoßend und leidend an der Wirklichkeit, und sehen und hören muss, was da so geboten wird und sich für Kunst hält, dann wird er wund, der Kritiker, das versteht ja keiner. Denn der Kritiker schaut, was sein sollte, das ist sein Maßstab, den hat er, mit dem schreitet er voran, das ist die Legitimation seines Richteramts. Ein Stein des Anstoßes ist er den Tumben, ein rotes Tuch denen, die sich Künstler nennen. Denn die wollen gelten, die tun sich groß im Klatschen des Pöbels, der Kritiker aber legt den Finger auf die Wunde, die letztlich seine ist, sein Leiden, sein Leiden an der Unvollkommenheit. Ah! Wer kennt die Schmerzen des Kritikers!

So in der Art.

Schwer begreiflich ist, dass die Pferdeschnauzige nicht einmal ihrem Mütterchen sich offenbarte. Die Grimmvettel war eine ebensolche Knallpfeife wie sie selber, aber man hätte sich doch zusammensetzen können und Rats pflegen! Die Dinge gemeinsam zu bereden, hilft dem Menschtier immer, und das Lernen wäre kein gar so einsames Geschäft gewesen.

Es gab den Jungen. Vor dem machte sie die Mauer in empörter Steile. Wenn er jemals zufällig und unbedacht eine Frage stellte, und sei es nach einem Tier nach einem Land nach einem Wort, antwortete sie ganz gewohnheitsmäßig und schnappend: Das weiß ICH doch nicht! in einem höhnisch ironischen Ton, der zu verstehen gab: Ich weiß das sehr wohl, aber was für eine kleine Kanaille bist du eigentlich, dass du mich mit sowas belästigst! Frechheit, mich sowas zu fragen!

Manchmal antwortete sie auch: Wenn du das nicht selber weißt, tust du mir wirklich leid. Oder: Guck gefälligst selber nach, oder muss ich alles für dich machen? Oder einfach: Und das weißt du nicht? Na gute Nacht.

Selbst der Junge, bei all seiner unzerstörbaren Naivität, begriff irgendwann, ich bin ein Belästiger. Fragen zu stellen, ist verboten.

Auf den Gedanken, die hat keine Ahnung, die führt sich so auf, weil sie es einfach nicht weiß, kam er nicht.

Auf den Gedanken, die ist eine Hochstaplerin, Hochstapler machen das so, antworten auf erwitterte Bedrohung mit vorauseilendem Angriff – kam er nicht.

Sollte man nicht glauben.

Frageverbot.

Es geschah sogar einmal, dass die Grimmvettel anwesend war, als er sich eine solche Antwort einfing, und die Grimmvettel errötete, und der Junge sah das, und der Junge wunderte sich, warum wird die rot? und der Junge ging gedemütigt davon, und der Junge wusste, die reden so mit mir, weil ich ein Stück Dreck bin, weil ich eben einer bin, mit dem so geredet wird

und tief in seinem Inneren wusste er, ich bin kein Stück Dreck

und tief in seinem Innern bohrte die Frage: Warum ist die Alte rot geworden?

bohrte, die Frage, bis in sein Erwachsenenalter hinein, und Jahrzehnte später, wirklich, Jahrzehnte später fand er die Antwort.

Die hat gewusst, dass ihr goldenes Kind sich vor der Antwort gedrückt hat, dass ihr goldenes Kind mich bloß runterputzte, um das Eingeständnis der Unwissenheit zu umgehen, dass das goldene Kind lieber den kleinen Sohn demütigte und verächtlich machte, als in irgendeiner Sache zuzugeben, das weiß ich nicht –

und die Alte hatte immerhin noch so viel Scham im Leib, dass, dies zu beobachten, dies mit ansehen zu müssen, ihr peinlich war.

Aber das machte ihm, auch im Abstand von Jahrzehnten, die Grimmvettel nicht sympathischer.

Hinter verschlossener Tür, aber das wusste er nicht, zischte sie der goldenen Tochter zu: Pass doch auf! Der Bengel merkt das doch!

Ihr Anstand hat gerade gereicht, dachte er, die ein bisschen erröten zu machen. Aber mich in Schutz zu nehmen? Ihrem Töchterchen mal gründlich den Kopf zu waschen? Dazu hat es nicht gereicht.

Noch im Alter dachte er das. Wenn nur einmal jemand mich in Schutz genommen hätte. Wenn nur einmal jemand sich auf meine Seite gestellt hätte. Wenn nur einmal jemand energisch mich verteidigt hätte. Nicht zu sagen, was mir das gegeben hätte.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)