Grandios

Sie akkumulierten Gepäck, die Pferdeschnauzige und das Ganzstiefelvieh, und es wurde nicht besser mit ihnen. Sie logen und betrogen, sie misshandelten und verletzten, sie schwollen in ihrer Grandiosität, sie trampelten im Vorbeigehen in Gesichter und dachten: Meine Größe.

Am Anfang waren sie noch Kinder, und man hätte denken mögen, die werden auch noch schlau. Nehmt die Pferdeschnauzige. Die geriet bon gré mal gré ins Schwindlermilieu des Journalismus und schwindelte mit. Sie überschritt die Grenzen, als sie abschrieb, aber sie hätte umkehren können. Es wäre nicht einmal verlangt gewesen, dass sie hätte das Milieu verlassen und sich womöglich als Putzfrau durchschlagen sollen – für mehr hätten ihre Fertigkeiten nicht gelangt, nun ja, den Job als Platzanweiserin hatte sie auch gemeistert, und was sonst im Arbeitsamt unter dem Titel „ungelernte Tätigkeiten“ firmieren mochte. Aber ihr abzuverlangen wäre gewesen, eines Tages innezuhalten und sich zu sagen: Was mache ich da? Ich habe doch keine Ahnung! – und die Konsequenzen zu ziehen. Einfache Konsequenzen, überschaubare Konsequenzen, leistbare Konsequenzen. Sie hätte damit beginnen können, das Alphabet zu lernen. Dann hätte sie sich ein paar Wörterbücher und Lexika und Nachschlagewerke anschaffen können, dazu hätte sie zuallererst aber den Umgang mit Büchern erlernen müssen. Sie hätte wie vor den Steilwänden eines unübersteiglichen Gebirges gestanden. Alles wäre schwierig gewesen, sie hätte lernen müssen, den ersten Schritt zu tun, und dann immer einen nach dem anderen. Sie hatte keine Ahnung, dass dies der Weg war, auf dem das Menschtier zu Zielen kommt. Sie glaubte in vollem Ernst und in voller Undeutlichkeit, großes Können ergebe sich durch ein Wunder, indem eine gewaltige Hand den Grandiosen ergreife und wie von selber seine Grandiosität offenbar mache. Sie wollte kein mühsam erlerntes Können, sie wollte nicht das Gehen Schritt für Schritt. Sie wollte das Können durch ein Wunder, das geschenkte Können, das plötzliche Können, sie wollte nicht den Weg, sie wollte unvermittelt sich am Ziel sehen.

Ich bin grandios, war ihre Überzeugung, und jedes Eingeständnis einer Unwissenheit hätte sie mit der Nase darauf gestoßen, dass es mit der Grandiosität nicht so weit her war. Jeden Tag lief sie auf gegen die Mauern ihrer eigenen Dummheit und Unwissenheit, und wenn ihr dann die Nase schmerzte, war der Griff zur Flasche oder zur Pillenschachtel immer eine Option. Und die Wut. Die Wut war immer zur Hand.

Es gab zu allem und jedem Thema handliche Nachschlagewerke, die als Standard galten, aber sie hatte keine Ahnung, welche das seien, so hätte sie sich überwinden müssen und auf Menschen zugehen und fragen. Zu fragen aber bedeutet einzugestehen, ich weiß das nicht. Sie war so daran gewöhnt, ihren Schwindel zu schützen, dass sie gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, in eine Bibliothek oder in eine Buchhandlung zu gehen und zu fragen. Keine öffentliche Bücherei sah sie jemals von innen. Wie man in einen Laden tritt, wusste sie, und sie kaufte gelegentlich – nur sehr gelegentlich, denn die Sache wurde ihr schnell zu teuer – in der Musikalienhandlung vor Ort die Noten hochgradig virtuoser Klavierstücke, um vor der Verkäuferin, während diese den Betrag in die Kasse tippte, mit kenntnisreichem Blättern in dem eben erstandenen Heft zu prunken. Man sollte nicht glauben, dass ein erwachsener Mensch sich so aufführt, aber solcherart liegen die Dinge bei dem Menschtier.

Sie war ja nun Musikkritikerin, die Pferdeschnauzige, ja, das hätte sie sich sagen können, sich sagen müssen, ich bin jetzt Musikkritikerin, damit verdiene ich mein Geld, ich besuche Konzerte und berichte darüber und urteile und kritisiere. Ich will aber nicht mehr länger lügen und posieren. Einfach zum Chef gehen und sagen, ich bin eine Schwindlerin, ich mach das nicht länger, das kann ich nicht. Ich lebe von dem Job. Aber was tun kann ich dennoch. Ich kann ganz im Stillen in mich gehen. Meine Hohlheit füllen mit Inhalt. Ich kann anfangen zu lernen. Von Grund auf. Ich kann Bücher lesen. Musikgeschichte. Instrumentenkunde. Der kundige Sänger. Ich kann damit anfangen, jedes Wort, das ich nicht kenne, nachzuschlagen. Ich kann vielleicht sogar lernen, Noten zu lesen. Ich sollte lernen, Noten zu lesen! Vielleicht kann ich lernen, ein bisschen das Klavier zu spielen. Wenigstens mit einem Finger die Notenbeispiele aus den Konzertführern nachtasten!

Sie hätte mit der Zeit begriffen, was Können durch Lernen bedeutet, anstatt darauf zu warten, dass Können durch ein Wunder sich einstellt. Sie wusste, dass all die Musizierenden auf den Podien konnten was sie konnten, weil sie es gelernt hatten. Jahrelang hatten die gelernt! Sie verachtete sie dafür. Die können das ja bloß, weil sie wie die Dummen geochst haben, sagte sie bei sich. Die wahre Größe kann alles so. Lernen, ich? Sonst noch was? Das haben andere nötig, ich doch nicht. Die auf dem Podium geben an mit ihrem Können, aber in Wahrheit können die das ja bloß, weil sie jahrelang dran rumgemacht haben. In Wahrheit können die das ja gar nicht! In Wahrheit haben die das ja vorher geübt! Und treten jetzt auf das Podium und tun so, als könnten sie das plötzlich! Als wären sie grandios! Dabei haben sie das alles vorbereitet! In Wahrheit sind die gar nicht grandios! Ich bin grandios!

Sie war wie ein Kind, das denkt: Wenn ich groß bin, kann ich das auch, und kann das noch viel besser. Wenn ich groß bin, kann ich das, denkt das Kind, ich kann das dann, weil ich dann endlich so groß bin, dass alle es sehen. Denn groß bin ich ja jetzt schon. Das wissen die alle nur noch nicht, aber sie werden es sehen, und dann wird es ihnen leid tun.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 08.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)