Schiefe Bahn

Sie bildeten irgendwie ein gutes Gespann, das Ganzstiefelvieh und die Pferdeschnauzige. Beide waren grandios, er aber genoss seine Kosmosmittigkeit, war Mittelpunkt jeder Party, dröhnend und prahlend, man hörte sein Lachen bis hinunter auf die Straße, während ihre Kosmosmittigkeit eher tragisch umflort war, unverstanden, verkannt. Er war der aufsehenerregende Mittelpunkt, ihre war die aufsehenerregende Tragik. In der lärmenden Aufbruchsstimmung nach der Katastrophe des Massenmords, der erst mal vergessen wurde, war da etwa was? aber nein, nicht doch! und der militärischen Niederlage, von der nur die eigene Leistung des „Standhaltens“ gegen die ganze Welt erinnert wurde, ohne das geringste Gefühl einer Verantwortlichkeit dafür, dass man die ganze Welt gegen sich aufgebracht hatte – in diesem Nebel aus Dauersuff und Dauerqualm und infantiler Prahlerei und Wirtschaftsaufbruch und Trümmerbeseitigung und Neubau eroberten sich auch die beiden Schwindler ein Plätzchen, und alles hätte gut werden können, wäre da nicht die Grandiosität gewesen. Hinterhergefragt wurde keinem Schwindel, und wenn einer unbedingt grandios sein wollte, bitte, aber verlangt wurde von allen, die Ärmel hochzukrempeln. Dazu war das Ganzstiefelvieh in seinen Grenzen bereit, er schob sich von Job zu Job, blieb dort länger, wo er mit seinem „sicheren Auftritt“ reüssieren konnte, immer die Cordjacke im Blick, zu der er erst noch durchfinden musste. In einem der Leben des Jungen war er längere Zeit Angestellter einer Schallplattenhandlung. Schallplatten, das war damals was. Während aller Lebenszeiten des Jungen veränderten sich die technischen Zurüstungen, Klänge zu konservieren, rasant, man hatte zunächst Platten, und Platten, jawohl, das war was. Kreisrunde Scheiben, sich drehend in hoher Geschwindigkeit auf maschinengetriebenen Tellern, Platten, die von dem Besitzer und Hörer „umgewendet“ werden mussten, nachdem die eine Seite ihren gespeicherten Schall abgegeben hatte, vermittelst eines Tonarmes, der die konzentrisch laufende Endlosrille, eingefräst in die Plattenoberfläche, mehr oder weniger klangschön „abtastete“. Das „Auflegen“ und das „Umwenden“ von Platten waren kultische Handlungen, wie auch das „Hören“, darauf komme ich gleich noch. Vor der Zeit des Jungen vermochte die eine Seite einer Platte nur wenige Minuten Klang zu bergen. Als das Ganzstiefelvieh in das Gewerbe eintrat, entlockte man bei stark verbesserter Klangqualität und bei verlangsamter Umdrehungsgeschwindigkeit der gleichen Scheibengröße nahe einer halben Stunde Musik, oder was sonst man in die Oberfläche „gepresst“ hatte. Jetzt erst war „richtige“ Musik leicht konservierbar, die richtige Musik der großen Toten, langgedehnte Orchesterstücke oder Operngesang, jetzt fangt nicht schon wieder an zu lachen. Großer Auftritt des Ganzstiefelviehs im Schallplattenladen. Er las die Werbeprospekte der Schallplattenfirmen, las die Aufdrucke auf den immer edler gestalteten Plattenhüllen, und bei seiner unstrittigen Begabung zu furzgeschmeidigem Aufschnappen war es ihm bald ein Leichtes, sich einmal quer durch die Musikgeschichte des Kontinents zu rodomontieren. Die Gestaltung der Plattenhüllen oder der Buchumschläge war übrigens nicht wirklich edel, man entwarf sie nur so, dass sie den Eindruck erweckten. Man hatte auch keine guten Manieren zu dieser Zeit, man ahmte gute Manieren lediglich nach. Geschmack hatte man noch weniger, man war ordinär primitiv brutal bösartig gewalttätig verlogen und stritt es ab, und wer abstritt, den nannte man geschmackssicher. Kultiviert. Kultiviert bis in die Fingerspitzen. Die Plattenhüllen gaben Informationen weiter aus hundertster Hand, und das Ganzstiefelvieh las und dachte: Niemand außer mir weiß das jetzt. Er war in diesem Punkt nicht schlauer als seine Pferdeschnauzige. Er war unter Proleten aufgewachsen, und was immer er las, er konnte sicher sein, niemand in seiner Umgebung hatte das vor ihm gelesen. Folgerichtig dachte er, das sei überall so. Im Großen und Ganzen war es überall so. Das achtelgebildete Krähen und Prahlen beherrschte alle Straßenecken. Aufgeschnapptes Zufallswissen, das war das Ding. Das Ganzstiefelvieh las die Hüllen, alle lasen Hüllen, mehr als die Hüllen zu lesen, wollte keiner Zeit haben, und auch das Lesen des Ganzstiefelviehs war mehr ein Überfliegen. Sein Gedächtnis behielt nicht alles, über sachgerechte Darlegungen, die ermüdend mit der Mahnung zu Aufmerksamkeit daherkamen, las er, sofort entnervt, hinweg, aber Sätze, die mutig wiehernd als überlegene Urteile durch ihre Gelände trabten, den gebogenen Hals und die wehende Mähne des Urteilers bezeugend, die eignete er gleich sich an. Er verkaufte gut, hatte vor den neureichen Stiefeln, die den Laden betraten, sich Kultur anzuschaffen, großen Auftritt und leichtes Spiel, lobte die „Fulminanz“ musikalischer Interpretationen, die er sich weder angehört hatte noch hätte verstehen können, und dröhnte und wirkte. Er hätte durchaus Karriere machen können, Schwindler in einem Land von Schwindlern, wäre da eben nicht seine Grandiosität gewesen, zu Tage tretend als Unfähigkeit, mit den Ladenbesitzern zurechtzukommen. Die Ladenbesitzer sahen sich zu Recht als seine Obrigkeit, er aber schaute auf sie von seiner Höhe herab, das ging nie lange gut, man trennte sich. Die Pferdeschnauzige tingelte derweilen als Platzanweiserin durch die Kinos und nahm an den tragischen Heroinnen auf der Leinwand Maß für ihr Nasen und ihre tragische Verkanntheit. Besitz akkumulierte sich nicht, weil alles Einkommen in die notwendigen Stoffe investiert wurde, in die Flasche und die Glimmstängel und die Pillen und was man sonst noch sich zu beschaffen verstand. Immerhin, als das Glück über die Pferdeschnauzige kam und das Arbeitsamt sie zu einem, zunächst noch unbezahlten, Hilfsjob bei einer Zeitung schickte, da zahlte sich die unbezahlbare Prahlfähigkeit des Ganzstiefelviehs aus, sie spitzte die Ohren nach gemeinsamem Konzertbesuch und lauschte seinem Gröldröhn, und tippte mit spitzen Fingern alles in die Maschine, die kennt sich wirklich aus, hätten wir nicht gedacht, hieß es anerkennend in der Redaktion. Ich verstehe eure Reaktion, aber das war das Modell, unter dem im Scheißland Kultur stattfand, niemand erwartete etwas anderes, man schlug voreinander Rad und ließ sich gegenseitig gelten, zu gegenseitigem Nutzen, unter die Räder kam kaum einer, wenn er nur den Komment beachtete, und der Komment lautete: Niemals nachhaken, niemals Fragen stellen.

Die Menschtiere reden gern übereinander, am liebsten Schlechtes, und wenn sie von einem sagen wollen, er tue moralisch nicht gut und immer noch übler, so benutzen sie den Ausdruck: Er ist auf die schiefe Bahn geraten. Meistens meinen sie damit das manifeste Übeltun, das Stehlen und Betrügen, das Abgleiten in die Kriminalität, beginnend mit kleinen Wegnahmen von zweifelhafter Strafbarkeit, sich steigernd über Körperverletzung und Diebstahl hin zu Raub und Totschlag. Was immer. Das Ganzstiefelvieh und die Pferdeschnauzige waren schon als Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Erwachsen wurden sie nur körperlich. Blieben infantil ihr Leben lang, und es wurde schlimmer und schlimmer mit ihnen. Sie rutschten die Schräge hinunter und nahmen Fahrt auf jeden Tag, das Gewicht ihrer Grandiosität im Rücken. Das Menschtier rollt nicht zu Tal wie eine Kugel, das Menschtier hat seinen freien Willen. Der freie Wille setzt seinen Besitzer imstande, sein Geschick zu wandeln, jederzeit. Jederzeit kann das Menschtier umkehren. Kann springen von der schiefen Ebene. Solcherart ist IHRE Gnade, dass von dem abgesprungenen Menschtier nicht einmal Reue und Buße verlangt wird. Muss nicht mehr tun als die Beine zu schwingen seitlich über die Rutschbahn und sich murrend davonmuffen, ohne Rückblick, wie grummelnd immer, auch recht. Aber der Entschluss zum Absprung ist seiner. Im Falle des Ganzstiefelviehs und der Pferdeschnauzigen hätte es vollauf genügt, sie hätten ihre Rucksäcke, gefüllt mit Grandiosität, abgeworfen und, in vollem Rutsch, nach der hingehaltenen Hand gegriffen, die sie mit einem Schwung auf festes Land befördert hätte.

Die Hand würde eure sein, das versteht ihr ja. Ihr merkt das, ihr seid zur Stelle, wenn ein Menschtier umkehren will. Wenn ein Menschtier, rutschend zu Tal, schleudernd und strudelnd auf der Spiegelglätte der Schiefen Bahn, das Gepäck seiner Lügen oder seiner Bosheit fortwirft und greifend und fingernd um sich schlägt, um in der schießenden Talfahrt irgendwo Halt zu finden – dann greift ihr zu und zieht das Menschtier hinunter von der Bahn, indes die Genossen johlend und jodelnd ihre Schussfahrt vollenden, hinunter in den Abgrund.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)