Hohlformen

Dies alles bedacht, kann das blinde Herumtapern des Ganzstiefelviehs in dem Nebel, den seine Freundin rund um ihre Schwangerschaft kochte, nicht mehr ganz so erstaunlich erscheinen. Das Hochstaplertum des Ganzstiefelviehs selbst half ihr: der Idiot hielt sich selber für viel zu grandios, als dass ihm die Möglichkeit aufgedämmert wäre, er könne über den Löffel balbiert worden sein. Sie hatte ihn ins Bett gezogen, und hatte nach Wiederholung der Sache keuchend begehrt noch und noch, bis der gewünschte Erfolg sich einstellte, dann war sie tragisch geworden, und hatte stumm dabeigesessen, als die Grimmvettel mit kreischenden Vorwürfen gekommen war über den schuldigen den alleinschuldigen Mann. Er sah, dass seine Freundin mit der Schwangerschaft auf einmal nichts mehr zu tun hatte, sein Stolz als Manntier aber verbot ihm, darauf hinzuweisen, dass sie die treibende Kraft gewesen sei. Sie hätte übrigens alles abgestritten, kalter Stirn, sie hätte ihn eher der Vergewaltigung bezichtigt, als auch nur in die Nähe der Wahrheit zu kommen. Die Wahrheit war in knappen Worten, dass sie irgendwie aus dem Desaster der Schauspielschule rauskommen musste, unter Wahrung ihrer Grandiosität. Kein Gedanke daran, dass sie einfach hätte sagen können, ich hab das versucht, ich bin gescheitert, ich hab mich überschätzt, ich hab keine Begabung. Sie war jedoch nicht das einzige Menschtier, das lieber erstickt wäre, als solch Bekenntnis über die Lippen zu bringen, und sei es nur im stillen Zimmer, allein vor sich selber. Genug, das Ganzstiefelvieh wusste fortan, ich bin schuld an diesem Kind, ich allein, welch große Künstlerin wäre geworden aus dieser Frau!

Versüßt wurde ihm die Pille dadurch, dass er fortan auch denken durfte sagen durfte: Welch großer Künstler wäre aus mir geworden, wenn ich nicht plötzlich Frau und Kind hätte versorgen müssen! Die Tragik!

Schon war eine plausible Begründung zur Hand für das fehlende Abschlussdiplom der Schauspielschule.

Die Wahrheit war aber, das Ganzstiefelvieh war auch nicht viel begabter als die Pferdeschnauzige. Immerhin, im Gegensatz zu ihr hatte er recht und schlecht die Bühnenaussprache gemeistert, aber auf eine übertriebene, dilettantische Weise, die das Gepräge des Gewollten und Unechten niemals abzuwerfen vermochte. Heranwachsend, entwickelt ein jedes Menschkind seine eigene persönliche Aussprache, bestimmt durch die individuellen organischen Bedingungen von Körperlichkeit und Geschlecht, durch die individuellen organischen Erfahrungen von Ernährung und von Bedrückung oder freier Entfaltung, bestimmt durch zufällige Idiosynkrasien, bestimmt durch das Vorbild der Familie und sonst einwirkender Personen, bestimmt endlich durch den regionalen Dialekt, oder eben, bei Umzug, durch die wechselnden regionalen Dialekte, und was sonst noch. Keines Menschtieres Stimme und Aussprache ist der eines anderen Menschtieres ganz gleich, das geht so weit, dass man zur Zeit des Jungen mit Hilfe technischer Zurüstungen eine Person auf eine zweifelhafte Tonaufnahme festzunageln verstand, mit Beweiswert vor Gericht. Beginnt nun eine solcherart individuell sprechende Person, sich professionell die standardisierte Aussprache anzueignen, wie die Konvention sie festlegt, wird das Ergebnis zunächst als eine Reduktion von Individualität erlebt, das ist irgendwie nicht mehr Ich, fühlt der Lernende, und hat recht damit, und auch wieder nicht, denn im Laufe der Zeit wird die genormte und angelernte Sprachform eben doch wieder mit individuellem Inhalt gefüllt, geprägt auch hier durch die organischen Bedingungen, und durch tausend individuelle Eigentümlichkeiten, wie sie Zufall und Geschick und Persönlichkeit eben zusammenbringen, bis zum Schluss der begabte Sprecher eine Stimme entfaltet, die jeder Hörer nach wenigen Worten, nach wenigen Silben gar als unverwechselbar wiedererkennt.

Das Ganzstiefelvieh hatte es soweit nie gebracht. Es hatte sich die verlangten Aussprachenormen einigermaßen eingedrechselt, aber die Hohlform mit eigenem Inhalt zu füllen, hatte er nicht mehr vermocht. Fraglich, ob bei dem Tier eigene Inhalte überhaupt vorhanden waren, den Kern seiner Persönlichkeit bildete, wie bei der Pferdeschnauzigen, eine leere Grandiosität, umpanzert von einer hysterischen, zuschlagbereiten Wut, für die stets Angriff die beste Verteidigung war. Wie alle Hochstapler wollte er gaffende und gläubige Bewunderer um sich herum, die fand er aber gerade an der Schauspielschule nicht. Dort waren Schüler zugange, die auf den Beruf ganz ernsthaft aspirierten, die also hartnäckig lernten und beharrlich übten. Lernen und üben, das war nichts für das Ganzstiefelvieh. Das Ganzstiefelvieh wollte grandios sein, und zwar sofort. Aber pronto! Die anderen Schüler versagten ihm die ersehnte Bewunderung ebenso wie die Lehrer, und er ging den Weg des geringsten Widerstandes, als welcher lautete: Bloß weg.

Das Kind war schuld, dass er seine Ausbildung nicht hatte beenden können, aber es wäre ein großer Künstler aus ihm geworden.

Man heiratete schleunig, noch vor Geburt des Jungen, das war zu dieser Zeit ein Muss, das Heiraten, und jetzt war für die junge Familie zu sorgen, Arbeit war zu finden, Geld aufzutreiben! Man packte den Rucksack und machte sich auf gen Abend, wo der Markt brummte. Über die Grenze zu kommen zwischen den planenden und den marktenden Teilen des besiegten und besetzten Landes, war damals noch leicht.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 04.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)