Hochstapler

Wo war ich. Bei der Ahnungslosigkeit des Ganzstiefelviehs. Bei den Frageverboten der Pferdeschnauzigen.

Frageverbote.

Das Ganzstiefelvieh, kann ich hier zwanglos einflechten, war zum Beispiel niemals dahintergekommen, dass der Umzug in die Industriestadt, in die Wohnung mit dem Aufzug und dem Balkon mit der Brüstung und dem Tiefkeller, wo die Leichen auf seinen Jungen warteten – dass dieser Umzug deshalb notwendig geworden war, weil die Pferdeschnauzige angefangen hatte, die Glossen für ihre Lokalzeitung einfach abzuschreiben, und aufgeflogen war. Ich habe schon davon geredet. Man hatte ihr nahegelegt zu kündigen und zu verschwinden, aber man hatte ihre Verfehlung nicht an die große Glocke gehängt, solche Glöckchen hängte man sich im Hochstaplermilieu des Journalismus gegenseitig niemals um, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ, die unausgesprochene Übereinkunft lautete, komme was wolle, nach außen halten wir zusammen, nach außen machen wir die Mauer. Analog wurden im Pädagogenmilieu Kinderschänder, ins Gerede gekommen, regelmäßig ohne begleitende Warnung in die nächste Stadt versetzt, wo sie dann weitermachen konnten nach Gelüsten. Also. Im Journalistenmilieu hielt man es mit aufgeflogenen Schwindlern ebenso. Der Unterschied zwischen dem Pädagogen und dem Päderasten besteht ja nur darin, dass der letztere aufgeflogen ist, der erstere noch nicht, und ganz entsprechend besteht der Unterschied zwischen schwindelhaften Journalisten und allen anderen – nun eben. Wenn es aber schon bemerkenswert ist, dass die Pferdeschnauzige es schaffte, den Grund für ihren notwendigen Abgang vor ihrem Mann geheim zu halten, muss als noch viel bemerkenswerter gelten: sie schaffte das sogar vor der Grimmvettel. Sie klagte glaubwürdig, ihr Job sei dem Rotstift zum Opfer gefallen, nun müsse sie sich einen neuen suchen, der Chef habe ihr versichert, es breche ihm das Herz. Weder dem Ganzstiefelvieh noch der Grimmvettel erdämmerte jemals der wahre Sachverhalt, der Junge wusste das, weil die Grimmvettel die anstößigen Aufsätze, als Glossen nach damaliger Zeitungsart übrigens kursiv gedruckt, ausgeschnitten und in einem gesonderten Album religiös aufbewahrt hatte, ihrem goldenen Kind immer wieder in den Ohren liegend, schreib doch noch mal sowas, du kannst das doch, du hast doch gezeigt, dass du das kannst, schreib doch ein Buch! Ein Buch! Die Pferdeschnauzige aber hatte stets tragisch umflort abgewinkt, durchblicken lassend, ohne es auszusprechen: Hat doch gar keinen Zweck! Perlen vor die Säue! Hier, wie auch in der Sache mit den Anrufen bei der Telefonauskunft, wiewohl das Telefonbuch griffbereit unter dem Apparat lag, hatte dunkle Irritation an dem Jungen genagt. Er kannte das fromme Album, er hatte die Glossen gelesen, über Wandern ortlos im Nebel, über die Fraglichkeit von Sensationsmeldungen, die die Zahl der Toten bei einem Unfall in den Vordergrund stellten, wo doch ein jedes einzelne Menschenleben unersetzlich sei, und dergleichen Gesums mehr, und er hatte gesehen, gar nicht schlecht geschrieben, und völlig anders als alles, was sie sonst schreibt, ja wirklich, wenn die das kann, warum macht sie das nicht weiter? Soviel wusste selbst er, dass einer, was er kann, auch tun will, und das Abwinken der Pferdeschnauzigen, wozu denn? für wen denn? wer liest das schon? wer versteht mich schon? schien ihm wenig plausibel. Wie alle Hochstapler hatte die Pferdeschnauzige beim Anblick ihres Namenskürzels unter den gedruckten Glossen kurzen Rausch empfunden, das ist Ich! hatte sie gefühlt, ganz Ich! und alle müssen das jetzt sehen! War es die Erinnerung an diesen stolzen Rausch gewesen, der sie bewogen hatte, die verräterischen Dokumente nicht verschwinden zu lassen? Vielleicht. Kann aber auch pure Dummheit gewesen sein. Wie alle Bibliotheksvermeider war sie ganz außerstande sich vorzustellen, dass ein Buch, von ihr irgendwo gefunden, von anderen Menschen ernsthaft schon gelesen worden sei, oder noch gelesen werden könne. Da sie, wann immer die Rede auf ein Buch kam, reflexartig zuckte: Kennich! Hapich gelesen! ging sie ganz selbstverständlich davon aus, alle anderen würden das ebenso halten. Bücher waren für sie etwas, mit dessen Lektüre man prunkte. Der Erfolg des Prunkens zählte, das Buch selber spielte nur insofern eine Rolle, als seine Lektüre als schwierig galt. Es gab Bücher, die „man“ gelesen zu haben hatte, und Bücher, deren Lektüre Zeichen für einen kleinen Geist war, über den man nur mitleidig die Nase rümpfen konnte. Den Kundigen erkannte man daran, dass er die beiden Kategorien von Büchern auseinanderzuhalten verstand, mit der Lektüre der richtigen Bücher also prunkte, über die Lektüre der falschen Bücher aber amüsiert die Brauen hochzog. Wahre Größe war viel zu groß, als dass sie sich noch der Mühe eigener Lektüre hätte unterwinden müssen. Wahre Größe war nicht lesend und lernend, wahre Größe war beurteilend. Wahre Größe war abtuend und einsortierend, wahre Größe war auf jeden Fall überlegen. Kennich! Kennichdochlängs! Für den Kennich sind, die Bücher erst mühsam lesen, bevor sie zu einem Urteil sich durchringen, Deppen. Der Kennich weiß das so. Die Pferdeschnauzige war ein Kennich, sie kannte und wusste alles so, und ihr Begriffsvermögen reichte nicht aus sich vorzustellen, dass andere die Sache anders sehen könnten. Ihr Begriffsvermögen reichte nicht aus und nicht ihre Selbsteinschätzung. Da sie sich für grandios hielt, war ausgemachte Sache: andere können nicht mehr als ich. Denn das kann ja gar nicht sein. Wenn andere mehr zu können scheinen, spiegeln sie das nur vor. Sie lächelte dann gern überlegen, wenn einer in ihrer Gegenwart zum Beispiel über ein Buch redete, das er wirklich gelesen zu haben schien, schien! lächelte auf eine überaus kunstvolle Weise, die durchblicken ließ, sie lächle ja nur ganz im Stillen, ganz für sich selber, und sei ganz ungewärtig, dass irgendeiner das sehen könne, vor allem der Betroffene! Übrigens lebte und weste sie in solcher Denke ganz infantil, ohne jede Einfühlung in andere, ohne jeden Respekt vor anderen. Sie verletzte gerne, sie liebte es zu verletzen, jede Verletzung ihrer eigenen tiefen Gefühle aber rächte sie gnadenlos. Wann ihre tiefen Gefühle verletzt waren, entschied sie selber. Ihre tiefen Gefühle waren eigentlich immer verletzt, da hatte sie die Deutungshoheit. Schuldig, ihre tiefen Gefühle verletzt zu haben, war, wen sie dessen anklagte. Die Anklage war identisch mit dem Urteil, infolgedessen war sie umgeben von Schuldigen, die doppelt schuldig waren, weil sie nicht einmal begreifen wollten, dass und warum sie schuldig waren. Der kapiert das ja gar nicht! schrie sie gern auf ihre kultivierte Weise, und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Nun ja, wenn sie nicht, wie bei dem Jungen, mit der flachen Hand in dessen Gesicht schlug. Es gab keine Berufungsinstanz, kein audiatur et altera pars. Sie klagte an, sie bewies, und ihr Beweisen war unwiderleglich, sie sprach das Urteil. Ihr Richtertum war Souverän, war Majestät, und zwar gewohnheitsmäßig beleidigte. Wann sie beleidigt war, war unvorhersehbar, und wenn sie es war, war ihr Spruch inappellabel. War sie beleidigt, war sie empört. Schweigend eine Kränkung wegzustecken, kam nicht in Frage. Anzunehmen, einer habe es vielleicht nicht so gemeint, oder sich zu sagen, was soll‘s, immer weiter, da steh ich doch drüber – kam alles nicht in Frage. Sonst noch was? Sie hatte das volle und uneingeschränkte Recht, ihre Empörung auszuleben. Schreiend und giftend und spuckend, und gegenüber Schwächeren gern auch zuschlagend. Stecknadelpunkte die Pupillen. Ihr Befremden muss demnach peinvoll groß gewesen sein, als man dem Schwindel ihrer Abschreiberei auf die Schliche kam, ich doch nicht! und auch die Überraschung des Jungen war nicht klein, als er beim Stöbern in der Bibliothek die Glossensammlung eines populären Journalisten entdeckte und darin die wohlbekannten Texte. Im Alter dachte er, ich hätte ihr das Buch unter die Nase halten sollen. Ja, hätte. Aber er lebte noch bei ihr, noch in ihrer Wohnung, als er seine Entdeckung machte, und ich könnte jetzt sagen, er schwieg aus Vorsicht, weil er ihre unkontrollierte Rachsucht fürchtete. Wäre aber falsch. Er schwieg nicht aus Furcht, sondern weil das Frageverbot wirkte. Wirkte so wirkungsvoll, dass Fragen selbst dann unterblieben, wenn die Sache doch längst schon klar war. Darüber reden wir nicht, sagte das Frageverbot, und die Ansage war verbindlich. Er wusste, der Junge, dass die Hochstaplerin das Alphabet nicht konnte, dass sie, Musikkritikern die sie war, nicht Noten lesen konnte, dass sie nicht Klavier spielen konnte, und auch kein anderes Instrument sonst, dass sie kein Gehör hatte für Musik, dass sie niemals verstand, was sie hörte, dass sie von keinem der musikalischen Termini, mit denen sie so geläufig um sich warf, die Bedeutung anzugeben gewusst hätte, dass sie mit keiner Fremdsprache auch nur erste Freundschaft geschlossen hatte, nicht mit einer einzigen, dass sie seit ihrer Kindheit wohl kein Buch mehr angefasst, geschweige denn von Deckel zu Deckel gelesen hatte – er wusste dies alles und sprach dies alles nicht ein einziges Mal an, denn darüber wurde nicht geredet. Wie ich schon sagte, hätte sie ihm reinen Wein eingeschenkt, hätte er sie vielleicht sogar gelobt. War eine schlechte Zeit für Mütter ohne Ehemann, war eine schlechte Zeit für berufstätige Frauen ohne Ehemann aber mit Kind, war demnach eine Leistung, dass sie sich durchschlug, war demnach eine doppelte Leistung, dass sie sich durchschlug als Schwindlerin. Hätte sie ihn geliebt, und er demzufolge sie, so wär er wahrscheinlich ihr bester Verbündeter gewesen. Da sie ihn aber als Feind sah, der ihren Schwindel als erster bedrohte, der demnach als erster zum Glauben an ihren Schwindel zu bringen sei, wurde er ihr genau das, was sie in ihm sah: Feind. Todfeind. Die Feindschaft wurde mit den Jahren tiefer und tiefer, bis der Junge endlich sich abseilte, auf Nimmerwiedersehen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.04.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)