Versuchte Heilung

Grand Mère kam herbeigepustet. „So“, schnaufte sie, „ich bin fertig, ich …“

Sie brach ab und starrte den Kiepenhändler an. „Oh, ein Reisender“, sagte sie dann. „Vautrin sei mit dir.“

„Vautrin sei mit dir, schmpff“, antwortete er, mit scharf spähenden Augen.

Dann sank Stille, die Kaufleute standen verlegen um das sitzende Skelett herum, das keine Anstalten machte, den Mund wieder aufzutun. Eluard hielt sich noch immer in vorsichtigem Abstand, Waldemar stand etwas näher und beschaute sich unbefangen den Alten.

„Du bist Händler?“ nahm endlich Aslan das Wort.

„Was ist mit deinem Bein?“ unterbrach Grand Mère. „Hast du dich verletzt?“

„Eine Wunde“, schnappte der Fremde, „will nicht heilen, schmpff. Die Tücke! Die Bosheit!“

Grand Mère schaute ihn an, als ob ihr ein Licht aufginge, und sie steuerte auf ihn zu und beugte sich über ihn. „Lass mich mal sehen“, sagte sie.

Er streckte das verletzte Bein von sich und warf einen hämischen Blick auf die Wagen.

„Händler, jawohl, das bin ich, schmpff“, antwortete er endlich auf Aslans Frage, während sich Grand Mère an seinem Bein zu schaffen machte. „Bin reich, kenne die Gegend. Bin bekannt bei den Menschen, berühmt, schmpff.“ Er griff mit der skelettartigen Hand zum Kopf und zog die zerschlissene Kapuze enger um den Schädel, so dass die Haarstoppeln zu den Löchern herausdrangen wie Seegras aus einer schadhaften Matratze. „Weiß vieles, sage nicht alles, schmpff …“ Er unterbrach sich und stieß einen gellenden Schrei aus, den Kopf in den Nacken geworfen, den Mund aufgerissen als ein rundes Loch, mit schwarzen Zahnstummeln.

„Jaja, ist ja gut“, schimpfte Grand Mère. „Ist alles verklebt …“

Eluard grauste.

Der Mann warf wieder einen tückischen Blick auf die Kaufleute. „Und ihr, schmpff, hm? Kommt her und wollt handeln, wie?“

„So ist es, Bruder Gelbmann“, sagte Aslan gelassen, „das ist so das Geschäft des Kaufmanns …“ Er hatte sich bequem gegen das Wagenrad gelehnt, die Arme verschränkt, einen Fuß hochgestellt. „Du kennst also die Gegend hier, die reichen Länder, wie Vautrin sie gab, und ihre Menschen?“

Der Mann legte einen dürren Finger gegen die Nase, kniff die Augen zusammen, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren, und sagte listig: „Kenne alles, schmpff.“ Und er kicherte zahnlos.

Er legt es darauf an, die Kinder zu erschrecken, dachte Inge.

„Doppelt willkommen bist du uns, wenn du uns erzählen kannst von den Wegen dieser Länder“, sagte Roger höflich.

„Ja, schmpff, oh“, sagte der Mann, und Grand Mère zog ihm mit einem Ruck den zerklebten Verband vom Bein. „Ooooh!“ heulte er und hob das gesunde Bein in einer Pantomime des Schmerzes, „hart ist das Werk deiner Hände!“ Er zog eine Grimasse, dass die Altmännerhaut knitterte.

Grand Mère hielt an spitzem Finger den Tuchlappen in die Höhe, der als Verband gedient hatte, er starrte vor Dreck und Eiter und Schorf.

„Vielleicht sollte man ein Feuer anzünden“, murmelte Aslan.

„Also, das ist nicht gut, Bruder Gelbmann“, sagte Grand Mère. „Ein solcher Verband muss zwei Mal am Tag erneuert werden, besser noch drei Mal, du musst ihn waschen und sorgfältig reinigen, wenn du das tust, dann hilft dir auch Vautrin …“

„Helf mir selber“, schnappte der Mann, „brauch niemanden, schmpff …“

„Siehst aber nicht so aus“, sagte Grand Mère. „Nun wollen wir mal schauen.“

In die Wade des Mannes hatte sich eingefressen eine offene, eiternde Schwäre. Das rohe Fleisch hatte stellenweise eine grünlich-gelbe Färbung angenommen, an anderen Stellen hatten sich verharschte Blut- und Eiterkrusten gebildet. Es stank bis zu Aslan hinüber, nach Verwesung.

Grand Mère sah sich das aufmerksam an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann richtete sie sich aus ihrer gebückten Stellung auf und sagte: „Wart einen Augenblick … und bleib so sitzen, rühr dich nicht, und fass die Wunde nicht an …“

„Brauch keine Befehle, schmpff“, machte der Mann gehässig und schielte zu den Frauen auf dem Kutschbock hoch.

„Jaja“, sagte Grand Mère, „warte nur hier.“ Sie ging zu dem hinteren Wagen, und man hörte sie schnaufend aufsteigen.

Der Mann saß auf seiner Kiepe und bespähte die Kaufleute.

„Wie geht der Handel?“ fing Roger wieder an.

„Oh, vieles ist geheim, schmpff“, sagte der Mann hinterhältig und wiegte den Kopf.

Aslan lächelte amüsiert. „Kannst du uns einen Rat geben, Bruder Gelbmann?“ fragte er. „Unsere Dankbarkeit wird mit dir sein, und tragen werden wir den Ruf deiner Güte in die entferntesten Winkel.“

„Also“, sagte der Kiepenhändler mürrisch, „da ist ein Haus, schmpff …“

„Ein einzelnes Haus?“ fragte Roger.

„Ein großes Haus, schmpff“, antwortete der Mann und betonte das ‚groß‘. „Mächtig hat da Vautrin gewirkt, sagen jedenfalls die, die dort wohnen. Brauch keinen Vautrin, Betschwestern, alles …“

„Wie auch immer“, sagte Aslan mit großem Ernst. „Was ist das für ein Haus?“

„Ein großes Haus, ich sagtes doch schon“, antwortete der Mann, gehässig auffahrend. „Wohnen viele Leute drin, oft handle ich dort, ja, die werden euch wohl etwas abkaufen, schmpff, wenn eure Ware denn was taugt, hehe … ein großes Haus, wohl hundert Räume hat es, vielleicht mehr, stark sind seine Mauern …“

„Und es steht für sich?“

Der Mann nickte. „Ganz für sich. Ist ein Dorf in der Nähe, schmpff, wohnt aber niemand dort.“

Grand Mère kam zurück, in den Händen einige Leinensäckchen und einen frischen weißen Baumwollstreifen.

„Halt still“, sagte sie und beugte sich wieder über das kranke Bein, „es wird brennen …“

Sie zupfte aus jedem der Leinensäckchen Kräuter und mischte sie in der hohlen Hand.

„Und gibt es einen Weg, zu befahren für unsere Wagen?“ fragte Roger.

Grand Mère machte sich daran, die Kräuter auf die Wunde aufzutragen.

„Ja“, sagte der Mann, „schmpff. Ein guter Weg, bequem zu befahren — och-hau!!!“ Er jaulte auf wie ein Tier, und Grand Mère schimpfte: „Stillhalten sollst du, verstehst du?“

Der Mann klappte den Mund zu und ballte die Knochenfinger zur Faust.

„Und wie finden wir den Weg?“ fragte Aslan.

„Folgt dieser Straße, schmpff“, antwortete der Mann. „Überquert einen Bach, kommt zum Ende des Waldes. Offenes Land ist dort, Wiesen.“

Grand Mère begann, den Baumwollstreifen um das Bein zu wickeln.

„Und dann?“ fragte Aslan.

„Kommt ein Sträßchen, schmpff, biegt ab am Waldrand, kurz danach, nach Norden. Habt dann noch eine Stunde Wegs, oder gar weniger.“

„Soso“, sagte Aslan nachdenklich. „Und viele Menschen wohnen dort, sagst du?“

„Eine große Familie“, antwortete der Mann, „ja. Handeln werdet ihr können mit ihnen, kein Zweifel.“

Grand Mère war fertig und richtete sich ächzend auf. Der frische, sorgfältig aufgelegte Verband wirkte fehl am Platz unter der schmutzigen, in starren Falten hochgekrempelten Hose.

„Mit Freundschaft und Menschenliebe hat Vautrin dein Gemüt erfüllt“, sagte Roger, „dass du uns so bereitwillig Auskunft gibst …“

„Hoho“, lachte der Mann hämisch, „wird sich schon was haben mit Vautrin, hehe, schmpff …“

Er brach ab und starrte vor sich hin, dann sagte er mürrisch: „Muss jetzt weiter. Hab schon zu lange verweilt.“

Er erhob sich, dürr und klapprig, und schwang sich mit unvermuteter Kraft und Geschwindigkeit die Kiepe auf den Rücken.

„Oh“, entfuhr es Inge.

Der Mann stand da wie eine Vogelscheuche, den Oberkörper vornübergebeugt, die Arme herabbaumelnd. Er blinzelte hämisch reihum, dann sah er Waldemar an und riss plötzlich und schnappend den Mund auf, zu einem stummen Gelächter, verzerrte Grimasse.

Waldemar prallte zurück.

„Vautrin sei mit euch, hehe“, sagte der Mann und ging los. Als er den Weg erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und fügte hinzu, abschließend: „Schmpff.“ Dann wandte er den Rücken und schritt kräftig aus, so dass er bald zwischen den Kiefern verschwunden war.

Die Kaufleute standen unter starrten ihm nach.

Schließlich fragte Roger: „Was war denn das für einer?“

Grand Mère antwortete: „Er wird sterben. Er hat den Brand, das heilt nicht mehr. Ein paar Tage noch, dann ist sein Blut vergiftet.“

Magdalena meinte: „Wahrscheinlich weiß er es, sonst hätte er uns kaum von dem Haus erzählt …“

„Wenns wahr ist“, murmelte Roger.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)