Auf der Höhe der Zeit

Die geistigen Dinge sind bedeutend langlebiger, weltlichem Verschleiß nicht unterworfen. Nicht einmal der Zeit unterworfen. Deshalb sind die Worte die Töne ja schon immer angekommen auf der Höhe der Zeit, dort sitzen sie wie Vogelschwärme auf den Telegrafendrähten und harren, geduldig interessiert, ob und wann wir es endlich hinaufgeschafft haben werden. Da sie hoch hocken und also den Überblick haben, sehen sie uns schon von weitem und zwitschern untereinander, über unsere Unbehülflichkeit, wie wir da emporkeuchen die Hänge der Zeit, über uns die Kante des Hochplateaus, die müssen wir erklimmen!

Sie warten auf uns, die Artefakte, immer waren sie vor uns schon da, deshalb können sie uns ja belehren über die neue Zeit, in der wir uns erst einmal umgucken müssen. Die Artefakte kennen sich schon aus, die Artefakte sind hier schon zu Hause, allemal.

Ich muss diese Sache mit den Artefakten irgendwann mal auf die Reihe kriegen, dachte der Junge. Niemand kann das auf die Reihe kriegen. Das ist unbegreiflich. Aber wir müssen ja auch die Dinge nicht begreifen, um mit ihnen umzugehen. Weiß sowieso keiner, was das ist, Schwerkraft, Elektrizität, gekrümmter Raum. Egal. Wir greifen dennoch zu. Wir müssen das Wesen der Artefakte nicht ergründet haben, sie wenden sich uns dennoch zu. Sie tun sich kund, man könnte sagen, sie offenbaren sich, aber sie geben sich niemals preis. Sie bleiben immer Geheimnis. Biegen wir um die Ecke, finden wir sie schon vor, und sie sagen uns Dinge, die hätten wir nie gedacht.

Man könnte denken, irgendwie tröstlich, wir kommen an auf der Höhe einer neuen Zeit, und die Artefakte sind schon da, sie sind vertraut. Als wären einem Reisenden die selbst gepackten Koffer vorausgeeilt zum Ziel, und wenn er im Hotelzimmer dann sie öffnet, wird er finden, was er selbst hineingesteckt. Aber genau das ist ein Irrtum. Wir sind es nicht, die eine neue Zeit möblieren mit überkommenen Artefakten. Ja, die Artefakte sind vor uns schon da, sind schon da, wenn wir ankommen, warten auf uns. Aber wenn wir die Koffer öffnen, finden wir Inhalte, die haben wir nie gesehen. Die Artefakte, so zeigt sich, sind Bürger der neuen Zeit, Bürger jeder neuen Zeit, wir sind immer die ratlosen die rastlosen Immigranten. Wenn wir die Artefakte vorfinden in der neuen Zeit, zu der wir mühsam hochgekrochen kamen, sind sie die Vertrauten zuallerletzt. Sie sind auf eine unbegreifliche Weise neu. Sie belehren uns über die neue Zeit und sagen uns Dinge, die hätten wir nie gedacht. Sie sind zu Hause, wo wir nur durchwandern. Wenn wir ankommen, kennen sie sich schon aus. Sie sind nicht die immer schon Vertrauten, sie sind die immer Fremden. Je länger wir mit ihnen umgehen, desto fremder werden sie uns. Sind sie frisch eingetreten in die Zeit, nehmen wir sie an als unsere Genossen und sehen nichts Besonderes in ihnen. Je länger sie bei uns sind, und das heißt ja immer, je weiter sie uns voraus sind, desto fremder erscheinen sie uns. Das ist der Probierstein für die Echtheit der Artefakte. Je länger wir mit ihnen umgehen, desto mehr irritieren sie uns. Auf die Dauer erst erkennen wir ihren außerirdischen Ursprung, dann aber mit Gewissheit. Sie sind ja von draußen gekommen, regneten herein durch das undichte Dach des Menschlichen, aus den ungeheuren Gebreiten des Möglichen, sickern ein in unseren Tropfen Wirklichkeit.

Die Artefakte haben für uns nicht Bedeutung als Ausdruck der Vergangenheit, das interessiert nur die Antiquare. Ihre Bedeutung für uns haben sie als Zeitgenossen der Zukunft. Sie sind uns immer voraus, und werden uns fremder mit jeder Generation, die dahingeht. Zum Schluss raunt ihre Botschaft wie von einem anderen Stern, und enthüllt uns Wunder der Offenbarungen, sie schreiben uns Zeichen an die Wand, deren Deutung schließt auf die Spiegelsäle der Erkenntnis.

Welchem Menschwesen sich ein Artefakt in den Weg stellt, das erlebt seine Stunde der Wahrheit. Muss es verstehen die Wahrheit? Muss es verstehen die Rede des Artefakts? Keineswegs. Der Rätselmund spricht, darum geht es. In einem Augenblick zerspaltender Erkenntnis begreift das Menschtier, der Mund spricht Wahrheit. Ich verstehe die Wahrheit nicht, der Mund spricht in fremden Zungen, ich kann mir die Rede nicht übersetzen. Und wenn schon! Dass der Mund Wahrheit spricht, diese Gewissheit ist überwältigend. Ich verstehe die Wahrheit nicht, und was ergibt sich daraus? Es ergibt sich die Gewissheit, Wahrheit ist. Kommt ja gar nicht darauf an, dass ich sie verstehe. Die Wahrheit ist. Ist in der Welt mit überwältigender Gewalt, ist der Fels, an dem wird alle Lüge zuschanden. Es spricht, das Artefakt, und das Menschtier weiß, was da verhandelt wird, das gilt nur mir. Es muss den Sinn der Rede nicht begreifen, es genüge ihm zu wissen, dass Sinn gesprochen wird. Welchem Menschtier sich ein Artefakt in den Weg stellt, das weiß ein und für alle Mal: Sinn ist.

Das ist das Geheimnis der Begegnung zwischen den Menschtieren und den Artefakten, Begegnung, in der Wahrheit sich offenbart. Es offenbart sich jene eine unverbrüchliche Wahrheit, die sagt, Wahrheit ist. Dass Wahrheit ist, ist die erste und einzige Wahrheit, die das Menschtier wissen muss. Es muss nicht wissen, was die Wahrheit bedeute. Es muss sie sich nicht übersetzen können, das ergibt sich oder ergibt sich nicht. Aber was es wissen muss, und zu überwältigender Gewissheit erfährt aus der Begegnung mit den Artefakten, das ist die erste Wahrheit: Wahrheit ist. Ein Menschtier, das diese Wahrheit fasst, ist über den Berg. Ein Menschtier, das diese Wahrheit fasst, ist schon immer angekommen auf der Höhe jeder Zeit, denn auf der Höhe jeder Zeit warten die Artefakte auf das Menschtier, und sprechen: Höre die Wahrheit, höre diese Wahrheit, höre die erste Wahrheit aller Wahrheiten: Wahrheit ist.

Das Menschtier fühlt dann Glück, überquellendes Glück, und Furcht zugleich. Das Geheimnis hat sich ihm offenbart. Das Geheimnis hat sich offenbart, als funkelnden Stern hält das Menschtier in seinen Händen das Geheimnis, und weiß es nicht zu deuten, wozu auch. Das Menschtier drückt die Offenbarung an seine Brust, drückt den Stern an seine Brust und tanzt auf einem Bein vor Glück, in der überwältigenden Gewissheit, da ist gültige Offenbarung, da ist wirklicher Sinn.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)