Wesen wie wir

Anthropomorphisierung, das war so ein Wort. Es bedeutete, sich menschlich Wesen und Wissen in die Dinge hineindenken, menschliche Gefühle, menschliche Gedanken. In die Dinge in die Wesen in die Welt. Als wären alle Dinge und Wesen in der Welt irgendwie Menschen. Menschen zwar von sonderlicher Gestalt, aber trotzdem Menschen, in ihrem innersten Kern.

Aber das ist falsch, sagte das Wort, das ist naiv, so denken die Kinder. Schlägt ein Kind sich am Stuhl das Schienbein auf, tritt es nach dem Stuhl und sagt, böser Stuhl. Der Stuhl hat das nicht mit Absicht gemacht, sagt die herbeieilende Mutter, der Stuhl kann gar nichts mit Absicht machen, sagt der herbeieilende Besserwisser, ein Stuhl ist ein Gegenstand, kein Lebewesen, ein Stuhl hat keinen Willen.

Fragt sich, dachte der Junge tentativ. Wenn aber nun genau das, die Anthropomorphisierung, die rechte Art wäre, die Welt zu betrachten? Wenn, so betrachtet, die Welt sich aufschlösse ganz von selber?

Ja, so würde ihm entgegengehalten werden, du willst also ernsthaft die Worte anthropomorphisieren, ernsthaft willst du sie betrachten als Lebewesen, die nach eigenem Willen sich mitteilen und miteinander umgehen und ihre eigenen Ziele verfolgen und Zwecke, ganz als wären sie kleine Menschlein?

Vielleicht ist alles Geschaffene williges Wesen, dachte der Junge. Wäre falsch zu sagen, alle diese Wesen da draußen, das sind im Grunde alles Menschen. Sondern richtig wäre zu sagen, wir Menschen, wir sind Wesen genau wie die Wesen da draußen. Wesen unter anderen Wesen, denen sind wir gleich, und die gleichen uns. Und dann stimmt es doch wieder, die Wesen da draußen, das sind alles Menschen, wie wir.

Das sind alles Menschen, die Bäume Sterne Tiere der Wind, Menschen in verschiedenerlei Gestalt und mit ungeheuren Begabungen, oder manchmal nicht so. Aber im Kern alles Wesen wie wir.

Nimm den Felsen dort: Wesen von ungeheurer Geduld und Macht, sein Schweigen hat etwas Bedrohliches, wie er so daliegt, wartend. Gewaltiger Schweiger, erhaben, rätselhaft. Wir sind ihm ganz egal. Sind wir? Vielleicht wartet er auf unsere Vernichtung. Vielleicht weiß er schon, wir werden alle vernichtet werden, und er wird immer noch da sein. Und wird leben in seinen Gedanken.

Oder dieser Baum da! Alt, alt wie die Felsen. Und immer noch wachsend. Unermüdlich unter dem Ansturm der Wetter, Äste breitend. Wieviel Wissen hat sich schon gesammelt in dem hölzernen Körper, im Laufe der Jahrhunderte? Wissen? Weisheit wohl eher, wer sich setzt zu Füßen des Stammes und demütig lauscht, der könnte vielleicht empfangen von der Weisheit, ein bisschen wenigstens, ein bisschen ist schon viel.

Blumen Sterne Gras und Wassertropfen, alle von IHR geschaffen, alles Wesen wie wir. Da ist kein Wesen, das sich nicht mitteilt. Indem es da ist, teilt es sich mit. Eröffnet es sich. Macht sich kund. Und will. Vor allem will es. Jedes Wesen will, allein schon dadurch, dass es Platz beansprucht in der Wirklichkeit. Platz zu beanspruchen in Raum und Zeit, das ist immer der erste und ursprünglichste Akt des Willens, die bösen Wesen hassen die anderen Wesen allein schon dafür. So hatten Ganzstiefelvieh und Pferdeschnauzige ihr kleines Kind gehasst allein dafür, dass es da war und Platz beanspruchte in der Welt. Woher ist der denn gekommen? hassten sie. Plötzlich ist der da, wir wissen auch nicht, wo der hergekommen ist, wir haben nichts damit zu tun! Der nimmt uns Platz weg! Der nimmt uns die Luft zum Atmen, der steht uns im Licht, das macht der aus bösem Willen!

Überall Wesen wie wir, überlegte der Junge, Wesen, zu denen reden wir, ob wir wollen oder nicht, und sie reden zu uns, das wissen wir. Sie sind da, sie machen sich geltend durch ihr bloßes Dasein. So tun auch die Worte. Unumgänglich auch die Worte, die zuallererst. Schließlich, Worte haben Bedeutung, das identifiziert sie als Wesen, denn alle Wesen haben Bedeutung, die teilen sie mit.

Irgendwo war da die Theorie, Worte sind Werkzeuge. Konnte der Junge nur lachen. Dann müsste man mit ihrer Hilfe ja machen können, was man will. Erfahrungsgemäß machen die mit uns, was sie wollen.

Heben nicht die Bücher an zu sprechen, kommst du nur in ihre Nähe?

Er dachte an sein Zweirad, mit der schepperigen Ganzgestalt hatte er so oft Zwiesprache schon gehalten, dass sie alte Freunde geworden waren.

Hat irgendetwas damit zu tun, überlegte er, dass alle die Dinge und Wesen Gestalten sind. Gestalten mit einer Fülle von Eigenschaften, die sie begrenzen und definieren. Farbe Form Bedeutung Schwere. Zuhandenheit und Gebrauch. Gestalten fallen naturgemäß auseinander, mit der Zeit, Schrauben gehen verloren, Funktionen schleifen sich ab, das Zweirad eiert, Ersatzteile müssen her, und einmal kommt das Ende. Ist bei den Menschwesen nicht anders.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)