Fast wie Menschen

Irgendwann war der Junge soweit, Schwätzer als solche zu identifizieren. Sein Gehör wurde besser, er hörte die Hohlheit des Blechgescheppers. Er vermochte irgendwann den Wortschwällen, geseibert auf Papier, ohne Grenzen, ohne Ende, er vermochte ihnen den Schwindel abzumerken auf einen Blick. Er lernte, seinem Unbehagen zu vertrauen, im Anblick schon des Textes auf einem Buchumschlag. Dieser Schreiber muss doch selber gemerkt haben, dass er ein Schwätzer ist, dachte der Junge. Was ist das mit denen? Sind die noch stolz auf sich, wenn sie ihre Schande gedruckt sehen? Frohlocken die insgeheim und denken, die Blöden da draußen, denen hab ich mal wieder ordentlich einen aufgeklopft?

Aber gab auch die armen Schächer, die glaubten ernsthaft an ihre Größe. Schufen sich Weltanschaulereien ohne Ende und dachten, endlich Wahrheit.

Im Buchstabengewimmel der bedruckten Seiten erkannte der Junge mit einem Male das Getümmel von Worten, so sich über ihren Schwätzer lustig machen. Er meinte, das Gekicher zu hören.

Der selbstüberzeugte Schwätzer glaubt, die Worte sind seine, aber sie sind ihm nur locker assoziiert, so wie ein Starenschwarm tanzen mag über dem Wanderer auf weitem Feld. Die jagenden Tierchen sind seiner Anwesenheit gewahr, und da er vielleicht der einzige markante Punkt ist im Gelände – kein Baum zu sehen weit und breit – tanzen sie in den weiten Lufträumen ob seinem Haupt, und der arme Schächer denkt, das ist ganz ich, wegen mir tanzen die so, die sind meine Schöpfung.

Sie werden sich schnell zerstreuen, die Tänzer, und andere Gefährten sich suchen, sie sind ziemlich promiskuös, das ist ihre Art. Sie machen Party, und wer es dabei mit wem treibt, das ist doch ganz egal, und hinterher schnell vergessen. Sie tanzen im Angesicht eines, der nicht mitmachen kann, aber doch so gerne dabei wäre. Sie haben Spaß, und werden dabei des Beobachters nur undeutlich gewahr, falls überhaupt, der arme Idiot aber denkt, das ist alles wegen mir, und wenn die einander ficken, sind sie meiner eingedenk, da sind neue Welten im Entstehen.

Und dann gibt es die Artefakte.

Auch im Artefakt herrscht das Getümmel der Worte, aber der Umtrieb ist von ganz andrer Art. Da sind Worte zugange, erkannte der Junge, Worte, die einander entdecken, und zueinander finden, in der Gewissheit, wir gehören zusammen, seit Anbeginn der Zeit. Im Artefakt geschieht Hochzeit der Wörter, im Artefakt versprechen sich die Wörter einander auf Lebenszeit. Sie werden einander die Treue halten, in guten wie in schlechten Tagen. Sie wissen, sie sind füreinander bestimmt. Der Urheber des Artefakts erschaut die Heilige Hochzeit, er weiß nicht, wie ihm wird, zuweilen weiß er nicht einmal, dass ihm wird, er schreibt die Worte nieder und geht weiter, und erst die Nachlebenden erst die Leser entdecken das Ungeheuernis.

Würde ich auch gerne, dachte der Junge stöhnend. Unversehens das Ungeheuernis aufdecken, vielleicht ohne es überhaupt zu merken.

Und dann dachte er, vielleicht ein bisschen beklommen: Anthropomorphisierung?

Da war es wieder. Es gibt sie, die wegbeweisenden Worte. Trau denen nicht, ermahnte sich der Junge, das war eine notwendige und nützliche Mahnung, denn in ihm weste diese unbegreifliche und unbeherrschbare Mischung aus Angst und Leichtgläubigkeit, er war leicht beeindruckbar, er gab den Worten den Menschen Kredit, und die eisige Distanz, die hervorzukehren er so gern bezichtigt wurde, resultierte regelmäßig aus der Entdeckung, mal wieder betrogen worden zu sein.

Wenn man den Betrügern ansähe, dass sie Betrüger sind, gäbe es keine. Also rüste dich. Die Betrüger treten immer auf als solche, denen du vertrauen kannst.

Es muss aber doch auch welche geben, denen ich wirklich vertrauen kann! rief der Junge. Woran erkenn ich die?

Für die normalen Menschtiere, also nicht ihn, ist die Sache einfach. Begegnen sie einem Betrüger, erkennen sie ihn an dem Wohlgefühl, das sie durchströmt. Einer ganz wie ich! einer von unserem Schlage. Und dann sind sie gleich vorsichtig, und meistens gelingt es ihnen, dem Betrug zu entkommen. Begegneten sie dem Jungen, fassten sie sich kaum vor Widerwillen. Was ist das denn für einer? Das ist doch keiner von uns! Infolgedessen waren die Betrüger fast die einzigen Menschen, die freundlich waren zu dem Jungen, sie fühlten zwar auch, das ist keiner von uns, aber sie wollten ihn ja betrügen, also blieben sie kunstvoll freundlich, und willig fiel der Junge darauf herein, er sehnte sich doch so sehr danach, dass auch einmal jemand freundlich war zu ihm. Schnell oder nicht so schnell dämmerte ihm dann, dass er einmal mehr geleimt worden war, zum wieviel tausendsten Mal? und sein Ingrimm kannte keine Grenzen.

Da er den betrügenden Menschen unwillkürlich Kredit gab – den darf ich doch nicht zurückweisen, der kommt mir doch immer so nett und offen entgegen! – gab er den gleichen Kredit auch den betrügenden Worten, er las ein neues Wort irgendwo und dachte tapfer, der dies Wort gefunden hat, der hat es vielleicht nicht erfunden, den hat es überkommen, und dann hat der sich doch sicher etwas gedacht bei der Begegnung, der muss sich einfach irgendwas gedacht haben dabei, ich darf das nicht vorweg ablehnen.

Wär aber besser.

Die Schwindler von der Selbstbemacherfraktion griffen auch hier begeistert zu, da sieht man es wieder! riefen sie

denn das riefen sie immer, da sieht man es, genau wie den Mützen galt ihnen alles als Beweis, wo sie auch hinschauten, sie konnten sich vor Beweisen nicht retten, Beweise, wohin man sieht

da sieht man es wieder! riefen sie also, wie das alles doch unbewusstes Mächlern ist! Müsste nur den Freundlichen seinerseits freundlich sich öffnen, der Unfreundliche, müsste den Freundlichen bereitwillig und offen entgegentreten, dann wird Heilung! Aber da ist der unbewusste Widerstand, der unbewusste Wille zur Wiederholung der schlimmen frühkindlichen Erfahrungen, so begegnet der Unfreundliche ganz unbewusst den Freundlichen mit tiefer Ablehnung und stößt sie zurück, das hat er dann davon.

Der Junge wusste ganz genau und aus langer Erfahrung, was passierte, wenn er den Freundlichen arglos und entgegenkommend sich öffnete. Er hatte lange Jahre eines jeden einzelnen seiner Scheißleben damit verbracht, unermüdet also zu tun, ja, er hatte sich über manche Wegstrecke sogar angestrengt, selbst den Unfreundlichen noch mit Offenheit zu begegnen, was er dann davon hatte, muss nicht noch erzählt werden.

So gewöhnte er sich auf die Dauer an, eine gewisse Freundlichkeit und ein gewisses Entgegenkommen zu praktizieren, die das Gegenteil von Offenheit waren, nämlich der Rammsporn schützender Verschlossenheit. Der ist immer so scheißfreundlich, hieß es dann wütend, er aber dachte, wütend wären die auf mich so oder so, es ist nicht anders, wütend sind die über meine Freundlichkeit jetzt deshalb, weil meine Freundlichkeit sie hindert, an mich ranzukommen. Er wurde dann einer von denen, die sich wenigstens mühen, Gutes zu tun gegen jedermann, ohne irgend Gutes zu erwarten. Es wurde ihm auch keines.

Was aber die Worte anbelangte, wenn die ihm so offen und bedeutend entgegentraten, ließ er oft alle Vorsicht fahren und gewährte ihnen Zutritt, und fand sich als der Belogene und Beschissene erst, nachdem er die Schwindler genährt und gemästet hatte im eigenen Haus.

Das passierte ihm wieder und wieder, es war da eine kindliche Beeindruckbarkeit in ihm, die war stärker als alle Erfahrung. Ein neues Wort kam des Weges geschlendert, da muss doch was dahinterstecken, dachte der Junge, vielleicht bedeutet das wirklich was, vielleicht schließt das wirklich auf eine neue Wirklichkeit.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)