Tanz, weiter

Eluard tastete sich entlang der Wagen, entlang des knarrenden Holzes, der mahlenden Räder. Er lauschte der schaukelnden Plane im Wind, dem weißen Segel, er spürte nach dem langsameren und schnelleren Ziehen der Ochsen, er fühlte das Rauschen und Knistern das Grases unterm Wagenboden.

Das alles hatte er nur erlebt bis jetzt als Durchgang, zwischen sesshaften Stationen, jetzt sollte der Weg zur Dauer werden, das Rad zur festen Stätte.

Auf seltsame Weise fand er diesen Zustand befriedigend, angemessen. Er war das eigentliche Bild der Wahrheit, die er schon immer gelebt hatte: auf Wanderschaft, seit er sich erinnern konnte. Immer war da Gefährdung gewesen, und Unsicherheit, die Häuser hatte nicht als unstet sich erwiesen, die Mauern waren nur Durchgang, die Festigkeit war Schein und trügerisch, immer würde sie morgen schon zu Ende sein.

Das Rad aber war Wahrheit. Es war genau das, was zu sein es vorgab, und es gab nichts vor, was es nicht war. Es drehte sich, und war der Wandel, und der war wirklich und echt.

So war Eluard unterwegs, und fühlte sich doch fester und sicherer, als er sich je in den Siedlungen gefühlt hatte. Sein Dasein öffnete sich und gab sich zu erkennen, und siehe, das Offenbare ließ sich leichter ertragen als die Verhüllung, das Rütteln und Schaukeln der Wagen bot eine Verlässlichkeit, gegen die die Mauern der Orte umhergeworfen erschienen wie Schiffe im Sturm.

War das ein guter Zustand? Er wusste es nicht, das Leben war unsicher wie stets, doch log es nicht mehr, fügte der Gefährdung nicht noch die Täuschung hinzu. Stets hatten die Tage ihn betrogen, und seltsam, nie hatte er das Gefühl gehabt, dass irgendjemand dem Betrug Glauben schenkte, jeder wusste und stets, dass das Leben eine rollende Kugel war, dem täppischen, wütenden Zufall preisgegeben; und doch gefielen sich die Menschen darin, vom morgenden Tag zu reden wie von etwas, das eintreffen würde mit Sicherheit und auf bestimmte Weise. Wie töricht das schien – und unwürdig.

Doch diese hier waren anders. Sie redeten davon, dass der Tag sie hinwegführen würde, und ihr häufigstes Wort war: vielleicht. Sie planten die Wege, doch machten sie immer den Vorbehalt: wenn dort ein Weg ist. Sie dachten an feste Orte, doch immer mit der Absicht, gleich wieder fortzufahren, und Grand Mère, die dicke Grand Mère, sagte oft: Wenn ich morgen noch lebe … Auch die Dörfler hatte er das sagen hören, aber das war ein alberner Spruch, sie meinten es gar nicht, sie wollten nur der Lebensweisheit genüge tun, die da sagt, dass alles Vautrins Werk sei, und nicht zu beeinflussen … Diese hier aber meinten, was sie sagten, sie wussten, dass die Tage vergänglich waren und die Wege zweifelhaft, und sie schwiegen nicht darüber.

Und dann war da Inge. Eine junge Frau, viel jünger als Miriam, und sie konnte lachen, ja, das konnte sie. War das gut? Miriam war traurig gewesen, so sanft und traurig, und das hatte sie verletzlich gemacht, und wer verletzlich ist, der schleicht sich leicht ein in die Herzen der Menschen, wie ein schlankes Tier zur Nacht, und wohnt dann dort, unvertreibbar … oft wird die Kammer geheim, wo er wohnt, so war es auch bei Eluard, mit der Zeit entdeckte er, dass er den Schlüssel verloren hatte, dann vergaß er auch das, aber sie war noch da, er würde es merken, später, viel später, und schwer würde ihm die Erinnerung werden …

Inge, ja. Sie war lustig, lachte viel, und oft sahen die anderen sie erstaunt an, schau, wie du lachen kannst, sagte Grand Mère, es schien, das sei etwas Neues … und so zärtlich waren ihre Umarmungen, ihre Küsse, er ließ es sich gefallen, hielt sich auch ein wenig an ihr fest, solange er es brauchte, sie redete viel mit ihm, ließ sich erzählen, was er erlebt hatte, und dabei konnte sie zuhören, stundenlang, und sah ihn an mit runden Augen …

„Sie ist verliebt ihn den Kleinen“, vertraute Roger Magdalena an. „Was soll ich tun? Ich mag nicht immer allein schlafen, zur Nacht …“ Und Magdalena versprach, mit ihrer Tochter zu reden.

Und dann war da Waldemar. Mehr von ihm als von den anderen erfuhr Eluard, und lernte, dass er den Wagen vertrauen könne: so sicher war Waldemar, so handfest, dass Eluard sich oft schämte, seiner Weichheit, seiner Empfindlichkeit wegen, aber Waldemar besaß Taktgefühl (er hätte nicht gewusst, was das sei, hätte er das Wort nennen hören) und sprang voran, ihm zu zeigen, dass das Leben gut war, hier auf den Wagen, gut und zuverlässig. Und Eluard schaute es ihm ab, ließ sich erzählen, horchte auf unbekannte Worte, die Waldemar benutzte, horchte selbst auf Tonfälle, lernte, auf welche Weise ein jedes Ding zu betrachten sei, lernte, was die Kaufleute seien, im Vergleich zu den Bewohnern fester Orte. Er lernte die Waldwinkel kennen, die wechselnden Dörfer, die größeren Städte und die einzelnen Gehöfte, er sah die Menschen und Familien, gutwillig oder verschlossen, freudig oder ablehnend, fand, dass nichts von Dauer sei (das hatte er schon gewusst) und dass dies ein tröstlicher Umstand sei (das musste er erst lernen); denn jede Enttäuschung, jede Ablehnung konnte weiterführen zu einer Freude und glücklichen Begegnung des nächsten Tages.

Er sah die Vielfalt der Wege, und spiegelte sich in ihnen, und war einverstanden.

Und Inge schaute ihn an und streichelte seine Haare, die blonden Haare, und nicht weiter dachte sie als an diesen Augenblick, so kostbar erschien er ihr.

So geschah es, dass der gemessene Tanz sich bald weiterbewegte, geruhsam und sacht, als wären die Dinge nie anders gewesen, als sie jetzt waren; und doch lag da irgendwo ein Schatten, eine Spannung, die ihre Vorläufigkeit fühlbarer machte als je, und auch ihre Kostbarkeit. So gingen die Kaufleute zärtlicher miteinander um, und heiterer: weil sie warteten.

Und Aslan fühlte es, und schwieg dazu, wie er es immer tat, und führte die Wagen unter dem hohen Sommer, da die Tage kürzer werden.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)