Wahrheit, Begegnung

Die meisten Menschtiere sollte es grausen, wenn sie in den Spiegel schauen. Auch im Spiegel begegnet ihnen die Wahrheit, sie aber sehen nur, was sie sehen wollen. Die Wahrheit jedoch fragt nicht, ob sie willkommen ist, die Wahrheit fragt nicht, ob das Menschtier sie suchte, die Wahrheit stellt sich dem Menschtier in den Weg und schaut ihm in die Augen, und das Menschtier sollte erkennend stehenbleiben und wissen, jetzt ist es passiert.

Die Begegnungen mit dem wirklichen Wissen sind für jedes Menschtier andere, soviel werdet ihr verstanden haben, deshalb ist jede Pädagogik Verbrechen – Tautologie! – die dem Menschenkind die begegnenden Worte in den Weg zu schieben sucht. Eine Pädagogik, die auf Ehre und Freundlichkeit beruhte, deren Aufgabe bestünde vor allem darin, dem Menschenkind den Weg freizumachen. Tu dich um, wäre die erste Ermunterung, die dem Menschenkind zuteilwerden müsste, und meistens bedarf es ja der Ermunterung gar nicht, die Menschenkinder sind neugierig, und wenn sie nicht vertieren, bleiben sie es ein Leben lang. Guck ein bisschen, was dir gefällt, sollte dem Menschenkind gesagt werden, und die Menschenkinder wissen immer sehr genau, was ihnen gefällt, im Augenblick, da sie es erblicken, sie sind da wie die verachteten Massen, die durch die Gassen schieben, wenn ihnen eine Sache nicht gefällt, kann lärmende Reklame durch die Straßen brüllen wie ihr nur wollt, sie werden die Sache nicht kaufen. Die pädagenden Bevormunder und Besserwisser verlegen sich angesichts widerspenstiger Menschenkinder auf das altvertraute Gemach, diesem Menschenkind Schuldgefühle einzureden. Oh, wie der Junge das kannte! Hier die Großen unserer großen Vergangenheit! wurden die widerstrebenden Kinder angeherrscht, aus denen empfangt das Weistum! Wenn das Kind dann aber doch nur Öde und Krampf und Langeweile empfand schon beim ersten Blick auf die bleierne Wüste der Buchstaben, endlos sich reihend ohne Sinn und Mitteilung? Wenn es den Tönen aus dem Geblech der konservenöffnenden Lautsprecher so gar keine Botschaft abzuhören vermochte? Dann liegt das an dir, wusste triumphend der Pädaghasser, an deiner Unreife, du bist noch ungeformt, der geformte Erwachsene bekennt sich zu unseren Großen! Das hartnäckig widerstrebende Kind aber fährt mit den lieben Eltern eines Sonntags hinaus ins Grüne, und aus dem Autoradio plärren die neuesten angesagten Popsongs, und plötzlich, aus dem Nichts heraus, fühlt das Kind sich ergriffen von einer melodischen Wendung von einer Textzeile bis ins Mark hinein, ein Blitz spaltet sich hinunter in sein innerstes Herz, und die Wahrheit steht ihm im Weg, und schaut es an und will nicht weichen.

Kein Menschwesen weiß, wann und wo ihm seine Wahrheiten begegnen, und am allerwenigsten kann das ein Pädager stellvertretend wissen für die Menschtiere. Das ist alles Schall und Rauch. Aus den Werken unserer Großen kommt die Offenbarung? Was für ein Bockmist! Die Offenbarung entscheidet selbst, woher sie kommt, und was das eine Menschtier dem anderen beibringen kann, ist äußerstenfalls, die Augen offenzuhalten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)