Wahrheit, meine

Im Alter erkannte der Junge, dass sein Denken kreisförmig war, elliptisch, zum Schluss und nach langen Umwegen kam er zu den einfachen Wahrheiten, die immer und überall schon gewusst waren gewusst sind, das macht nichts, es kommt ja darauf an, dass die Wahrheit deine ist. Deine eigene. Lehre und Verkündung nützen dir wenig. Nützen dir eigentlich erst, wenn du selbst auf Spur und Fährte gekommen bist der Wahrheit, dann siehst du und begreifst und verstehst, und die Lehre und die Verkündung anderer sagen dir: bist auf dem richtigen Weg folgst der richtigen Spur.

Waren schon vor dir welche, die sind geklettert durchs Gestrüpp der Tage.

Waren schon vor dir welche, die haben gebrüllt in den Wüsten ihrer Einsamkeit.

War immer schon vor uns Wissen und Wahrheit. Wie denn auch anders.

Also kam im Alter der Junge zu den Wahrheiten, die wussten alte Zeiten schon.

Kam zu der einfachen Wahrheit, dass er in drei Welten lebte: mit Fuß und Wurzel heraus aus der Erde, mit dem Kopf in den Wolken, und mit dem Leib unter der Fuchtel des Geanders.

Auch das war so einfach wie eins und eins. Unten waren Natur und Leben, oben war der Geist. War für den Jungen alles einerlei Welt. Und das Dazwischen war die Welt der Teigfassaden, und die Teigfassaden nannten ihre Welt: Gesellschaft.

Geist, Natur und Gesellschaft. Das ist nicht neu, das ist nicht aufregend. Der Junge jedoch war geraten in eine Zeit, da versicherten die Teigfassaden einander und aller Welt: Gesellschaft ist alles! Alles ist Gesellschaft! Gibt nichts außerhalb von Gesellschaft!

Selbst dort, wo sie die Sphären von Natur und Geist zugaben, wenigstens als Möglichkeit einräumten, prahlten sie: Kann aber davon nur geredet werden in der Gesellschaft! Alles gesellschaftlich vermittelt! Redest von Natur! Von Geist! Was Natur Geist Gott Jenseits Ursprung! Alles Reden darüber gesellschaftlich vermittelt!

Und sie bewiesen grinsend.

Das war überhaupt ihre Art, das grinsende Beweisen, das beweisende Grinsen.

Es ist nicht zu sagen, in welch eisige Wut der Junge im Anblick dieses Gegrins geriet. Er hatte so oder so keinerlei Grund keinerlei Veranlassung den Teigfassaden gut zu sein, aber dies Gegrins, dies prahlerische Behaupten der Alleinwirklichkeit der Fassadenwelt, das sprach: Alle Welt ist aus Teig!

– so wie die Blöden vermuten: der Mond ist aus Käse –

dieses krawallwisse Gegrins der Teigfassaden gab dem Jungen sozusagen den Rest. Schenkte ihm die eisige unwiderrufliche Gewissheit: diese sind Dreck diese sind Vieh diese sind unterhalb aller Menschlichkeit.

Hatte er schon gegenüber dem Gesau, dessen Lebensleistung im Hineinschießen in Gesichter bestanden hatte, nichts als Grauen und Ekel empfunden, so erstarrte er gegenüber den gesellschaftswissenden Teigfassaden in eisiger Ablehnung. Da gab es keine Brücke mehr kein gemeinsames Gelände keinen Spielplatz keinen Tummelplatz keine Kirmes keinen Tresen da man sich noch hätte treffen können.

Da gab es nur noch Sprachlosigkeit.

Den Teigfassaden mit ihrem Wissen um die Einzigwertigkeit gesellschaftlicher Relevanz war das egal, da sie von der Existenz des Jungen nichts wussten und diese Existenz, hätten sie davon gewusst, ihnen vollkommen schnurz gewesen wäre.

Für den Jungen aber bedeutete diese Sprachlosigkeit: endgültige unwiderrufliche unheilbare Abwendung. Als ihm klar wurde, dass die Teigfassaden in vollem Ernst ihr Ineinander ihr Dazwischen ihre Gesellschaft für das Einzig der Welt hielten, dass sie im Ernst meinten, dass außerhalb ihrer gegenseitigen wechselseitigen Blickverstricktheit so etwas wie Welt überhaupt nicht existiere – war für ihn die Sache erledigt. Jede Möglichkeit der Rede der Verständigung abgeschnitten. Er wusste, wusste mit brennender Allgegenwart, dass er mit dem wichtigeren Teil seiner Existenz im Oberhalb der Wolken lebte. Nicht kam von dort: lebte dort, Tag um Tag, in seiner täglichen Wirklichkeit. Er wusste das, so wie er wusste, dass sein Herz schlug. Es gab gegenüber Existenzen, die ihm diese Wirklichkeit absprachen, keine Rede und Gegenrede mehr. Konnte keine geben. Wie auch.

Dass die Stockwerktheorie alt war, wusste er. Fühlte sich getröstet von diesem Wissen. Natur Gesellschaft Geist. Oder Natur und das Übernatürliche, und dazwischen der kleine Bereich der Kultur. Von Kultur mochten die Teigfassaden nicht mehr reden, sie sagten lieber Gesellschaft, das lief grosso modo auf das Gleiche hinaus.

Geist! höhnten sie gellend. Das Übernatürliche! Gott! Das ist ja sowas von Hahaha! Gibt es alles doch gar nicht! Die Doofen glauben da oben ist ein alter Mann mit weißem Bart! Sowas von Hahaha! Gibt es alles nicht! Hat man ja jetzt längst rausgekriegt!

(Sie brachten es fertig, vor Hohn das Wort „längst“ auszusprechen wie „lääängst“, und meinten, das sei ein Argument.)

Natur ließen manche von ihnen immerhin noch gelten. Aber die Hartgesottenen unter ihnen lehnten auch diese Vorstellung ab. Gibt keine Natur! Was Mann! Was Frau! Was angeborene Eigenschaften! Alles Gesellschaft! Alles gesellschaftliche Konstruktion! Geschlecht Denken Körper Geist – alles gesellschaftliche Konstruktion!

Und da ihnen alles gesellschaftliche Konstruktion war, lag alles ihrem Zugriff offen. Alles Material ihres Zugriffs, alles Material ihrer Macht. Überlegen brölten und rölzten sie hinein in eine Wirklichkeit, die sie restfrei für Objekt restfrei für Material ihres Zugriffs ihrer Verfügung hielten. Der Junge fürchtete und verabscheute diese, wie er die verabscheute und fürchtete, die in Gesichter hineingeschossen hatten. Er sah keinen Unterschied. Der gleiche geistesgestörte Verfügerwahn, die gleiche irre Überzeugung, Letztanordner zu sein über alles, was Welt und Leben heißen mochte.

Gesellschaft, dachte der Junge. Was das wohl sein soll. Erst war es die Gesellschaft der systematischen Rechtsbeuger und Strafvereiteler, nun ist es die Gesellschaft der kritisch hinterfragenden Letztanordner. Das ganze nennt sich Fortschritt, wie man hört.

Wie man hört.

Ist nichts außerhalb unserer Macht! schrien die Verfüger. Wir sind die Herren!

Und es war in ihrem Gefuchtel der nämliche Hass, die nämliche totschlagbereite Wut, die der Junge kannte, seit er überhaupt zum Erkennen erwacht war.

Womit der Kreis sich geschlossen hätte, und wir wieder am Anfang wären.

Denn außerhalb aller Theorie und allen Gedenks blieb das eine wahr, unhintergehbar wahr: dass von allem Anfang an für die Teigfassaden ihr Ineinander und ihr manisches Bezogensein aufeinander das All der Welt darstellte, während für den Jungen Welt das Dahinter war und das Vorher und das Immerschon. Aus diesem Dahinter und Vorher und Immerschon lebte er, das war sein Ort, das waren sein Woher und Wohin, das war seine Heimat, daraus er kam, dahin er wollte.

Er ließ sich da nichts wegreden. Hätte sich gar nichts wegreden lassen können, denn was er unter Welt verstand, war ihm so wirklich und so selbstverständlich wie sein Atem und sein Herzschlag und seine Gedanken.

Vielleicht wirklicher noch. Denn sein Atem und sein Herzschlag waren sein Körper, also fremd bis zu einem gewissen Grad, und seine Gedanken mochten nicht immer seine eigenen sein, zugeflogen ihm vielmehr von außen, wie es mit Gedanken zu gehen pflegt: Welt aber war sein eigen. Das Droben über den Wolken war glänzende gläserne stählerne Wirklichkeit, unverrückbar unbeirrbar unantastbar. War nicht einfach nur da, sondern war Glanz und Macht. Floss über, verströmte sich, überflutete und durchlichtete alles Sein. War nicht nur Wirklichkeit, war Eigentlichkeit.

Dass unter diesen Umständen die Teigfassaden nicht ihm, ihnen nicht er Freund sein konnte: bedarf keiner Erörterung.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)