Grand Mère stieg herab vom Wagen, leise, um niemanden zu wecken. Aslan rührte sich ein wenig, unter seinem Zeltdach, und sie flüsterte: „Sei ruhig, ich bin‘s.“
Er murmelte etwas, unverständlich, und war wieder still.
Wie schwarz die Nacht war! Aber Grand Mère fand sich zurecht, sie spürte die Bäume im Dunkeln, und hörte das Rascheln der Gräser, auch waren da tausend Gerüche, denen konnte man nachgehen. Sie schritt mit nackten Füßen durch das hohe Gras, sie fühlte die klare Nässe an ihren Beinen.
Eine Unruhe bewegte sie, sie musste herausfinden, was es war. Geräuschlos schlich sie am Waldrand entlang, das Eichengestrüpp langte nach ihr, sie streifte die harten Blätter, so konnte sie nicht fehlgehen; schließlich spürte sie, dass der Boden unter ihren Füßen trocken wurde und weich und federnd: das war eine tiefe Lage alter Nadeln, und gleich erschnupperte sie auch den Geruch des erloschenen Feuers.
Sie stand unter der Sequoia, die ihre Arme weit über die Wiese reckte. Grand Mère tastete sich weiter vor, ohne Hast, und fand den Stamm.
Schwer und borkig war die Rinde, längsgeriefelt, Grand Mère tastete mit der Hand darüber, fühlte das Rotbraun, ja, fühlte es. Wie stand schweigend der Baum! Himmelhoch, das war er, im mächtigen Stamm stiegen aufwärts die Säfte, heraufgeholt aus der Erde, der schwarzen guten Erde, stiegen hinein in die Äste, in die Nadeln, in die Spitze, das war Leben.
Grand Mère lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm, fühlte seine Härte. Dann ließ sie sich zu Boden sinken, bis sie aufrecht saß, gegen das Rotbraun gelehnt. Sie griff mit den Händen aus, da fühlte sie die Wurzelansätze auf dem Boden, mächtige Arme, die die Erde umfassten.
„Das bist du“, murmelte sie, „wir wollen doch sehen …“ Sie schloss die Augen, spürte den Baum über sich.
Traum. Rotbraunes Dämmer. Da ist nichts als Fließen, ein langes Strömen und sich Ausdehnen, das lebt in die Höhe, treibt seine Fasern. Wer lebte so? Warm sind die Wälder, gleiten hervor aus dunklem Ur, bei hellen Meeren. Warm die Wälder. Da schreiten die Tiere, wer kennte sie? Stehen die Wälder, schreiten die Tiere, sieht sie keiner. Was ist die Welt, wenn kein Blick sie trifft? Ist Leben, ist sich selbst genug, wächst der Baum, im warmen Wald, auf trockener Erde, freundlich die Sonne, und schweigt seine Jahrtausende. Oh, streichelt die Sonne ihn, die Fülle des Sommers, dann schmilzt der Honig des Herbstes, golden, treibt die schuppenblättrigen Zapfen. Keime sind eingeschlossen in die Zapfen, die reichen das Leben weiter über die Zeiten, über die Jahrtausende, über die Flut hinweg, übers Dunkel hinweg, ins Grenzenlose. Kein Ding ist ohne das andere, die Nadel am Baum ist Teil von deinem Fleisch. Weit schöpfen die Wurzeln des Baumes aus dem Strom der Zeitgewässer. Uferlos ist der Strom, klingt dunkles Murmeln aus seinen Gründen, das erzählt von den Möglichkeiten, jede Wirklichkeit ist der Tod von tausend Möglichkeiten, der Tod? der Schlaf wohl eher, sie warten, träumen, denken neue Dinge. Da lebte das Leben über dem Zeitstrom, spielte seine Spiele von Zärtlichkeit und Mord, millionenäugiger Tanz, Farbengeglitzer aus der Unendlichkeit, spielte mit sich selbst, dann waren da Menschen, Menschen zu sehen. Sahen und vergingen wieder, Spiel und Tanz, wer zählte die Dinge, fühlte die Notwendigkeit?
Stand da der Baum, über den Schlünden der Unendlichkeit, kleiner Spross von langer Kette. War vor ihm einer, von dem er den Samen hatte, das Leben, und dieser hatte auch einen vor sich, schnell gleitet die Reihe fort, rutscht hinunter zum letzten Grund: dunkel murmelt das Meer des Ur. Alles ein Tanz, alles ein Spiel, alles ein Wesen, ein einziges.
Stand da der Baum, stand über den Schlünden der Unendlichkeit, trug den Samen, warf ihn aus. Würden neue Geschlechter entstehen, schweigend wandelte die Erde ihre Bahn, die gute Erde.
Blau, leuchtendes Blau. Intensiver, als je einer geahnt. Blaue Glut im tropfenden Meer aus Schwarz, seiden schimmern die Wasser aus Schöpfung und Vergänglichkeit, schmilzt der Regen, die bunten Tropfen der Unendlichkeit, Milliarden Augen, ewig, sehen sich selbst.
Traumzeit.
Wurzeln in der Erde, wie fliegt der Gedankenball durch die Schwärze, die hohe Schwärze der Traumnacht! Stumme Schimmer von Samt falten sich übereinander, Lage auf Lage, matter Glanz, der tieft sich, und tieft sich, ist endlich bodenlos, der Raum, die Fülle zu umfassen. Dort tanzen die Kugeln, die gläsernen Kugeln, die spiegeln die Dinge, sind das Abbild, und das Abbild ist das Wesen, schau den Tanz!
Wurzeln in der Erde, verzweigen sich, fasern aus, feinste Härchen durchdringen den Grund. Sie sprechen mit der Erde, in winziger Zärtlichkeit.
Horch! Die Erde sagt ein Wort.
Grand Mère umklammert die dicken Wurzeln, presst Kopf und Rücken gegen den Stamm. Sie muss es hören, was sagt die Erde, sie muss es wissen, das Wort.
Horch!
Ja, sagt die Erde.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 14.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)