Fremd waren die Düfte unter der Plane, und die Geräusche; sogar die Geräusche.
Eluard lag und lauschte, zuweilen umfing ihn Schlaf, leicht und müde, wie wenn die Dämmerung hereinweht; dann schrak er wieder hoch, und in seinem Kopf spreizte sich eine schmerzhafte Wachheit. Er lag und schwamm in den Nebelwassern, die die Traumzeit umlagerten, der Kahn glitt leicht über die Wellen, doch fand er nicht das andere Ufer.
Er spürte ein Nagen, eine Beklemmung, die sollte er noch bitter kennenlernen, als Erwachsener: im Schlaf, da kehrten die alten Zeiten wieder, die Erinnerungen, die das Wachsein nicht mehr kannte, erwünscht und gefürchtet, erwünscht mit allem, was schlafen will in einem Menschenherz, gefürchtet vom Tag, vom Wachsein, von der Helle.
Also wehrte sich Eluards Bewusstsein gegen das Einschlafen. Oh, der Schlaf brandete herein wie ein mächtiges Meer, schwarz und weit, umschlang und überflutete die Gelände des Tages, dass die Leibesglieder warm wurden und weich und schwer, und Eluard tiefer sank, immer tiefer, in eine behagliche Schwärze, in die Wohltat der Gegenstandslosigkeit, wo die Farben leuchteten, Smaragd, Rubin, Türkis, wie das endliche Wissen selbst, da die Augen aus Fleisch geschlossen sind und der Geist sieht: in allen Dingen sich selbst.
Aber war da ein letzter Rest von Tag, von Bewusstheit, der wehrte sich, verzweifelt, denn es ging um sein Leben. Auf Inseln hatte er sich gerettet vor der Flut des Schlafs, an flüchtigen Worten sich festgehalten, noch gehört oder gedacht vor dem Einschlafen, er kämpfte zäh und verbissen, und schrie auf, wenn die Flut ihn zu überrollen drohte, schrie furchtbar auf, so dass Eluard zusammenzuckend erwachte, mit einem erstickten Keuchen, einem Schluchzen, und benommen ins Dunkel starrte, eine kreisende Leere im Kopf, Angst im Herzen. Dann wälzte er sich auf die andere Seite, voller Unruhe, dämmerte wieder ein.
Nicht anders verhielt es sich mit dem Erwachen. Da schwebte Eluard tief in den Bildern seines Geistes, wie ein Schwimmer im blauen Meer, wo es warm ist und klar wie Kristall, die Wellen leuchten: nicht war der Körper zu spüren, nur das unendliche, atmende Meer, in sachtem Wogenheben, durchhellt von wandellosem Schimmer; und drängte der Tag heran, das kalte, öde Licht des Morgens, der engen Wachheit, der kleinen Geschäftigkeit, der Müdigkeit, die den Kopf leer macht und unfruchtbar zugleich. Und der Schlaf wehrte sich, Eluard wehrte sich, gegen das Erwachen, gegen das Bewusstsein; wenn er aufstand, war sein armer Kopf benommen, gequält, er hasste das Licht.
Wie konnte er so leben?
Wenn er wachte, fürchtete er den Schlaf; wenn er schlief, fürchtete er das Wachen. Das waren zwei Wahrheiten, und keine konnte mit der anderen leben.
„Kannst du denn nicht einschlafen, kleiner Mann?“ flüsterte Inge. Sie lag neben ihm, auf dem Wagen, unter einer schweren Decke; und halb draußen auf dem Kutschbock, doch so, dass er noch gegen den Regen geschützt war, lag und schlief Roger, eine schwarze Silhouette gegen das hellere Grau der Regennacht.
„Nein …“ murmelte Eluard, müde und unruhig.
Inge erhob sich halb. „Komm zu mir herüber“, flüsterte sie, und Roger rührte sich im Schlaf. Eluard kroch hin zu ihr, über den Wagenboden, er konnte nichts sehen, fühlte nur die Richtung ihrer Stimme, und sie griff nach ihm und zog ihn an sich.
„Es ist noch alles so fremd hier, nicht wahr“, murmelte sie. Es war warm unter ihrer Decke, Eluard fühlte sich unruhig und befangen, sie roch so fremd, er spürte ihren Atem über sich, doch wehrte er sich nicht, als sie die Arme um ihn schlang und seinen Kopf an ihre Brust legte.
„Du wirs sehen, es wird dir bei uns gefallen“, murmelte sie und begann, sein Haar zu streicheln, mit weicher, gleichmäßiger Bewegung, voller Zärtlichkeit. „Du wirst viel sehen, weißt du, wir kommen in viele Städte und Orte, und Waldemar wird dir alles zeigen, es wird dir Spaß machen, und wir haben dich alle sehr gern, ja …“
Und Eluard fühlte ihre Hand, wie sie über seinen Kopf strich, und da war es wieder, das schmerzhafte, hölzerne Gefühl in seiner Kehle, und er gab auf, sich noch länger zu wehren, er begann zu weinen, und presste das Gesicht gegen ihre Brust, dass man ihn nicht schluchzen höre.
„Sch …“ machte Inge leise, und hörte nicht auf, ihn zu streicheln, „es ist ja gut, es ist ja gut …“ Und sie spürte etwas wachsen in sich, etwas, das sie nicht kannte, Zärtlichkeit war es, der Wunsch zu schützen, das fremde Leben dort zum Gedeihen zu bringen, um seiner selbst willen, weil es kostbar war, unendlich kostbar, kostbarer selbst als das eigene Leben …
Sie erschrak vor dem, das sie nicht kannte, es war ein seltsames Erschrecken, ein Stich, der fast weh tat, und doch süß war, voller Zärtlichkeit …
Und Eluard schluchzte, als wolle ihm das Herz brechen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)