Irgendwann, und das müsst ihr verstehen, verselbständigte sich die Angst. Bis in sein Alter hinein litt der Junge unter sinnlosen Anfällen plötzlichen Herzrasens, und seine Därme krampften. Er hatte irgendwann gelernt, das ist bloß die Angst, ohne Grund ohne Sinn, er hatte irgendwann gelernt, gar nicht beachten, das geht vorüber, das ist bloß wieder die Angst. In jungen Jahren dachte er noch, etwas ist nicht in Ordnung, ich bin krank, etwas Schreckliches wird passieren, und die aufwolkende Panik mehrte die Angst im Zirkelschluss, bis er sich, fahl wie der Tod, hinter dem Bett verbarg, Leichenschweiß auf Wange und Stirn.
Während der Lebzeiten des Jungen wurden allgemach so gut wie alle Musikinstrumente elektrifiziert. In der populären Musik wurden gerne Instrumente verwendet, die nennt man Gitarren. Ihr werdet das selbst noch sehen, ich erklär euch das jetzt nicht im Einzelnen. Saiten sind gespannt über ein Korpus, nicht viel anders als bei einer Violine, und unter den Saiten ist ein kleines lauschendes Gerät eingebaut, nicht größer als ein Knopf, das sendet alle Geräusche, so die spielende Hand erzeugt mit den Saiten, weiter an einen Verstärker, der kann Klänge brausen lassen bis zum Geheul des Orkans. Wenn jetzt also der Spieler eine Saite anschlägt, und der Ton klingt aus dem Verstärker, dann kann der Spieler auch hingehen und sich dem Verstärker nähern, und dann hört der lauschende Knopf im Instrument nicht nur das Vibrieren der Saiten, sondern auch den Klang aus dem Verstärker, und auch diesen gibt er zurück, denn etwas anderes kann und soll er ja nicht, und also verstärkt der Verstärker nicht nur die Saitengesänge, sondern auch noch seine eigene Wiedergabe davon, die Klänge jagen sich also im Kreis, dergestalt, dass ein ohrenbetäubendes Heulen entsteht, ein Jaulen, mit dem das spielende Menschtier, seiner Lust am Allotria entsprechend, kunstvolle Kreisungen anstellt, denn je nachdem, ob sich der Spieler dem Verstärker nähert oder sich von ihm entfernt, je nachdem, wie stark wie schwach wie zitternd wie schnell er die Saiten anschlägt, mäßigt sich das Jaulen, steilt sich, jubelt, fällt in sich zusammen. Das Menschtier nennt diesen Effekt Rückkoppelung, und damit hatte der Junge zu tun, er wusste das selber, nur war er kein souveräner Maestro seiner Angst, sondern ihr ausgeliefertes Opfer. Er merkte, die Angst kommt, und in ihm begann das Schreien vor Angst, Angst vor der kommenden Angst, und die Angst vor der kommenden Angst fügte sich hinzu der kommenden Angst, und nun sah er die kommende Angst, und seine Angst vor dem kommenden Ungeheuer begann zu schreien, und die Angstschreie wieder gesellten sich zu der kommenden Angst und mehrten sie und machten sie fett, und alles endete in einem rasenden Jaulen, das wusste, Ungeheuerliches wird geschehen, Unbegreifbares, Seelenmord, schlimmer als der Tod, und der Junge, sich windend und würgend, nein, er war kein kunstvoller Zupfer der elektrischen Gitarre seiner Angst, er kroch am Boden, hinterm Bett, unterm Bett, und er hatte keine Wahl, er musste die Sache sich ausrasen lassen, hinterher, nach einem solchen Anfall, war er ein Wrack, währenddessen sowieso, und alle Hilfe lag allein im Wandel der schreitenden Zeit, denn, wie ich schon sagte, die Maßnahmen der Bosheit vereiteln sich selber. Die Anfälle kamen und gingen, und der Junge verging vor Angst, und seine Panik richtete sich besonders auf die Möglichkeit, ein solcher Anfall möchte ihn treffen irgendwo im Inmitten der Öffentlichkeit, wo er stand im Verhau der hassen Geblicke, und kein Bett, sich dahinter zu verbergen, und das geschah auch, wieder und wieder, und er tat, was zu tun er ja gelernt hatte sein ganzes junges Leben hindurch, er ließ sich nichts anmerken, starren Schritte wandelte er durch Gelände, übertobt von Angst, saß gar eingekeilt in einem Hörsaal, konnte nicht vor nicht zurück, starb tausend Tode, und nichts und aber nichts war ihm anzusehen, und es konnte nicht ausbleiben, die Jahre vergingen, und nicht ihm, sondern seinem Körper, diesem Gemisch aus Fleisch und Geist, wurde allgemach klar, die Angst kann schreien wie sie will, irgendwann geht ihr die Puste aus, und nichts passiert. Das war der Punkt. Die Angst reckte sich riesenhoch, aber niemals hatte sie die Kraft, ihre Drohungen wahr zu machen. Sie schrie unaufhörlich, Schrecklichstes wird passieren: es passierte nichts. Der Junge war ganz einfach krank, er hatte eine Angststörung, und die Krankheit tat, was alles Krankheiten des Menschtieres tun, wenn sie ihr Menschtier nicht umbringen: sie heilte ab, nach und nach.
In Parenthese, es versteht sich von selbst, die Schreie der Selbstbemacher gellten durch alle Gelände, wir allein können helfen in solchen Fällen. Die unbewussten Konflikte müssen bearbeitet werden! Aber da waren keine unbewussten Konflikte in dem Jungen. Er wusste ja, wem und was er das Jaulen der Angst zu verdanken hatte, nichts war da unbewusst. Hätte er sich dem Hokuspokus der Selbstbemacher anvertraut, auch dann wäre seine Störung irgendwann abgeheilt, und die Selbstbemacher hätten triumphiert, allein wegen unserer Therapie ist der jetzt heil! Aber der Junge wäre niemals heil geworden, und die Angst hätte sich nicht verflüchtigt wegen, sondern trotz der Therapie. Der Junge dachte sogar, wäre ich den Lügen der Selbstbemacher gefolgt, die Angst wäre womöglich noch länger bei mir geblieben, denn die Selbstbemacher hätten mir ja genau das gesagt, was das Geelter, was all das Geander mir entgegengeschrien hatte lebenslang: Du bist das Problem, du allein, an dir müssen wir arbeiten. Der Junge aber hatte schon als Kind geahnt, ich bin nicht das Problem, ihr seid es.
Mit zunehmendem Alter würde ihm die Ahnung zur Gewissheit gedeihen, und das vertrug die Angst nicht, sie machte sich allgemach davon, das Fleisch war klug geworden, hatte die Drohungen der Angst als leer durchschaut, vielleicht auch war das Fleisch überdrüssig geworden und abgehärtet, wollte die frech von der Angst geforderten Ausbrüche und Aufbrüche nicht mehr reproduzieren, vielleicht sagte das Fleisch zu der Angst, ich will auch noch leben, und wer bist denn du? oder es mahnten im Alter die schwächer werdenden Kräfte des Fleisches ganz von selber Sparsamkeit an in den Erbringungen, der Junge wusste es nicht, wie auch immer, irgendwann wurde ihm denn doch die Angst mehr Erinnerung als Gegenwart, nachdem sie über Jahrzehnte sein Begleiter gewesen war, und er dachte, siehe, und schon wieder hab ich was, wofür ich dankbar sein darf, die Angst ist weg.
Natürlich, wäre ihm die Angst gar nicht erst induziert worden, wie schön wäre das gewesen! dann hätte ich ein Leben gehabt, dachte der Junge, aber andererseits, dann hätte ich ja gar nicht gewusst, dass ich Grund habe zu Dankbarkeit.
Denn dankbar zu sein für all das Ungemach, das ausbleibt, fällt dem Menschtier besonders schwer, das wusste der Junge.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)