Die Stadt endete, wie sie begonnen hatte: in einem Waldlabyrinth kleiner einstöckiger Häuser.
Der Nachmittag aber war unterdes dunkel geworden, die Wolken hingen tief und grau, vereinzelt lösten sich schleirige Fetzen von den runden Bäuchen und trieben davon, von einem Luftstrom erfasst, Spiel der Himmelswasser.
Sirrenden Flugs schossen Schwalben über die Straße, nach Mücken jagend, schmalflüglige schwarzweiße Blitze, die nach den Tieren, den Menschen zuckten, fortsausten in steiler Kurve, man meinte den Federschwung zu spüren im Gesicht, sie spielten Fangball mit ihren dünnen und leidenschaftslosen Rufen, in der grauen Luft ein Gitter aus Geschwirr und Gezwitscher.
Der Maître seufzte. „Das fängt gleich an zu regnen“, sagte er zu sich.
Die Straße nahm jetzt einen geraden Verlauf, sie führte zur Stadt hinaus, der Häuserwald wurde lichter, Gestrüppfelder drängten sich zwischen die Mauern und Stämme; schließlich erreichten die Gespanne einen schmalen Bach, grabenartig fast, der untermurmelte die Straße, eingeschlossen in eine steinerne Röhre: zu beiden Ufern dehnte sich ein freier Wiesenstreifen, über den hob sich nur da und dort spärliches Gebüsch, aus Faulbaumstämmchen zumeist.
Jenseits des Baches aber drang die Straße in dichtes grünes Dämmer, das kaum das Tageslicht bis auf den Boden sickern ließ: eine ausgedehnte Waldung von Essigbäumen.
Nichts anderes wuchs dort als Essigbäume: dicht an dicht standen die gekrümmten Stämme, verästelten sich adrig in ihre Kronen hinein, die Kronen mit den rauschenden hellen Fiederwedeln, die bildeten ein undurchdringliches Dach, darunter war es dämmrig, feucht und kühl. Im Unterholz versuchten die jungen Bäume nachzukommen, in drängender Fülle, hastiges Wachstum; wo sie nur etwas Licht fanden, da bildeten sie rasch in die Höhe schießende Büsche, dicht und grün wie schwere, langblättrige Farne, bedrängten das Grünbraun der älteren Stämme.
Ein säuerlicher Geruch erfüllte den Wald: den strömten die Blätter aus, alldurchdringend floss er durch die Regenluft.
Eine endlose, niedrige Säulenhalle war der Wald; die Stämme, unbeblättert bis zum Kronenansatz, standen und hoben hoch das Kuppeldach aus saftigem Laub, überm Gitterwerk der Äste, giftig waren die grünen Blattlanzetten, giftig … in der Ferne der Säulenhalle, weit hinten im dämmernden Dunkel, verschwamm die Sicht: blieb nur noch eine Wirrnis aus Braun und Grün, fernes Rauschen des Blätterozeans.
Ein Flüstern und Rispeln hielt sich versteckt in den Wedeln, den dichten Kronen, es wisperte ohne Unterlass, doch weich und gedämpft, das war nicht das klare und trockene Rascheln der Eichenwälder, nein, klang eher wie Murmeln, das matt durch einen Vorhang aus gewobener Wolle dringt, fast stimmlos …
Ein Wald der Feen.
Leicht könnte das Wispern deutlicher werden, Stimmen wären zu unterscheiden, hell und singend, und grüne Glieder würden zwischen den Stämmen tanzen, glatt und schlank, denen würde so mancher nachzuspringen suchen, würde sich verlieren in der Säulenhalle, sacht würde es ihn zu Boden drücken, fühlen würde er, wie die weiche Erde ihn ergriffe, wie der Leib durchwurzelt würde von braunen Äderchen, wie die Glieder fortsprossen würden und sich verzweigen, zu Ästen, zu den hellen, grünen, giftigen Wedeln.
Und dann begann es zu regnen. Weich war der Tropfenfall, weich und schwer, rollte in den Staub des Weges, durstig aufgetrunken, und aus der Erde brach der Duft nach Sommerleben, nach frischen Pflanzenschösslingen, die sich in der Nacht dem Boden entringen würden, heraus aus schwarzen, feuchten Erdkrumen, heraus, hell und jung, die Blätter dem Licht entgegen …
Der Maître atmete auf. „Das wurde Zeit“, sagte er. „Den ganzen Tag hat es schon danach ausgesehen … außerdem haben mich die Mücken halb aufgefressen.“
„Mich auch“, klagte Eluard. „Sie haben mich überall gestochen.“
„Wir sagen es Grand Mère“, meinte Waldemar beruhigend. „Die macht eine Salbe, die tut gut.“ Er selbst war auch gestochen worden, aber er kam nicht auf den Gedanken, davon zu reden, er war es gewöhnt und merkte es kaum noch, es gehörte einfach dazu, zum Hochsommer – richtig schlimm wurde es erst im Herbst, wenn die Nächte kühl zu werden begannen, dann wurden die Biester gierig, sie fühlten den Winter kommen, den Tod, sie wollten noch etwas mit auf die Reise nehmen … Eluard und der Maître, die kannten das nicht so, die waren empfindlich und leicht zu plagen.
Bald rauschte der Regen gleichmäßig herab, in ruhigen grauen Fahnen, warm und stetig.
„Die Kinder sollten auf den Wagen kommen, unter die Plane“, meinte Magdalena besorgt.
„Warten wir ab, was der Maître tut“, antwortete Aslan gleichmütig. Kaum waren die ersten Tropfen gefallen, hatte er seine Regenhaltung eingenommen: den Kragen hochgeklappt, den Oberkörper vornübergebeugt, gestützt auf die Arme, deren Ellbogen ihrerseits auf den Knien ruhten, die Zügel locker in den lässig herabhängenden Händen gehalten – so konnte er stundenlang sitzen, den Blick fest auf die Deichsel zwischen den gleichmäßig arbeitenden Ochsenhintern gerichtet; und wo sein Geist war in dieser Zeit, das hätte vielleicht er selber nicht zu sagen gewusst.
Die grünen Wedel der Essigbäume fingen den Regen auf, sie rührten sich kaum, erzitterten nur unter dem Anprall der Tropfen, und flüsterten … ein Wispern und Murmeln erfüllte den Wald, wie sprachen die Bäume …
Der gleiche Laut wie seit allen Zeiten, dachte der Maître, wir hören ihn, wie wir ihn immer gehört haben, mit anderen Ohren, werden ihn immer hören. Treiben dahin auf unserem Zeitfloß, ahnen andere in der strömenden Dämmerung, die wissen dieselben Bäume, hören den Tropfenfall, riechen den Duft der Erde, immer war es dasselbe, stetig und gut. Ein wunderlicher Gedanke ist das, Schmerz und Sehnsucht und Trost zugleich, wie klein wir sind, dachte der Maître, so kurz das Leben, so wenig bedeutend … und wie gut das ist, Erde werden wir sein, Erde den Bäumen.
Er beugte sich tiefer nieder, über den Zügeln, und fühlte den Regen in seine Haare rollen.
„Wie dunkel es auf einmal geworden ist“, sagte Magdalena. „Schau die Wolken, der Himmel ist ganz zugezogen …“
„Ja“, antwortete Aslan, doch ohne hochzublicken, „das hält sich jetzt, wird nicht so bald wieder aufhören.“
Magdalena langte nach hinten, in den versenkten Gerätekasten. Sie öffnete die Klappe, kramte ein bisschen und zog ein dickes Bündel hervor, eine eingerollte Wolldecke, so hart und dicht gewoben, dass sie steif war, die konnte wohl vor dem Regen schützen.
„Hilf mir mal“, sagte Magdalena, und Aslan streckte mechanisch den Arm aus, sie breiteten die Decke über sich, bis über die Köpfe, Magdalena rückte an ihren Mann heran, so reichte der Unterschlupf für beide.
„Er muss bald anhalten“, sagte Magdalena mit einen sorgenvollen Blick auf den Maître, „die armen Kleinen werden ja ganz durchnässt …“
„Jaja“, machte Aslan.
Hinten hatte sich Inge unter die Wagenplane zurückgezogen, sie nahm Platz neben Grand Mère, und da saß sie nun, leidlich im Trockenen, und blickte an Rogers Rücken vorbei hinaus in den Regen, den grauen Schleier, und die grünen, tropfenden Wedel.
„Ein seltsamer Wald ist das, fürchten könnte man sich“, meinte sie.
Grand Mère wiegte den Kopf. „Wunderbar war und vielgestaltig, was wir gesehen haben in wenigen Tagen … wunderbar sind Vautrins Schöpfungen. Vielleicht treffen wir auf Bewohner dieser Gegend, dass sie uns sagen können, welche Bewandtnis es hat mit diesem Wald. Trunken scheint er mir zu sein von Geschichten, ja, ich ahne die Fülle der Rede in ihm, hört sein Wispern im Regen … sicher wissen die Menschen zu erzählen.“
„Vorausgesetzt“, warf Roger ein, über die Schulter, der Regen rann ihm in die Stirn, „vorausgesetzt, sie sind nicht alle wie dieser verrückte Lotse Herbert, laufen weg, bevor man mit ihnen sprechen kann …“
„Das war vielleicht einer!“ rief Inge. „Und habt ihr seine Haare gesehen?“
„Ein Kopf wie eine Eichel im Herbst“, lachte Grand Mère, „da sieht man, wohin es führt, wenn keine Frau ist im Haus.“
„So ist es. Hast du gehört?“ rief Inge und trat mit dem Fuß nach Rogers Rücken, und Roger feixte.
„Aber im Ernst“, sagte er dann und wiederholte Aslans Worte, „ich möchte wohl wissen, was der Maître zu ihm gesagt hat.“
„Nutzlos ist es, darüber zu grübeln“, meinte Grand Mère. „Er wird es uns sagen, wenn er es für richtig hält, und wenn nicht, nun, so ist uns nichts dabei verloren, und unbesorgt wandeln wir weiter unseres Weges. Schließlich, was geht es uns an?“
Roger nickte. „Wahr“, sagte er knapp. Inge schien nicht gleichermaßen befriedigt, aber sie wusste, Grand Mère hatte gewöhnlich recht in solchen Dingen. Also sagte sie nichts mehr.
Roger verfiel in ein träumerisches Dösen, das machte das gleichmäßige Murmeln des Regens, das Wispern der Blätter, die Ochsen liefen ohne Führung, und die beiden Frauen schwiegen, Grand Mère und ihre Enkeltochter, sie saßen unter der Plane und blickten stumm hinaus in den Regen …
Endlich weckte sie Quietschen und Rasseln, Aslans Wagen blieb stehen, der Maître hatte angehalten: da vorne war die Weggabel erreicht.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.03.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)