Es wäre schön, ich könnte euch die Erzählung von dieser Katastrophe ersparen. Nun wohl, mir selber auch. Ich habe euch das Elend des Jungen genugsam ausgebreitet, aber wieder mahnt mich der Gedanke, ihr müsst auf eure Aufgabe erschöpfend vorbereitet sein. Ihr würdet euch selber im Wege stehen, würdet ihr mit der frommen Überzeugung in Richtung Planet Erde aufbrechen, wird schon alles so schlimm nicht kommen. Der Gedanke, es wird so schlimm nicht kommen, hat prima vista einiges für sich, schließlich, das Menschtier hat Generation um Generation alle Fährlichkeiten überlebt und seinen Planeten besiedelt, und wenig nach den Toden des Jungen würde die Zeit anbrechen, da stand die Besiedlung des Nachbarplaneten auf der Agenda. Die Zukunft des Menschtiers aber liegt nicht in der Zeit, das sollte ich euch deutlich gemacht haben. Läge die Zukunft des Menschtiers in der Zeit, wäre alle Zeit entwertet, die nicht Zukunft ist. Alle Zeit wäre dann nur Vorstufe. Es ist aber ein jedes Menschtier, wann und wo immer geboren, unmittelbar zu IHR. Es ist entsprungen unmittelbar aus IHRER Hand, und all sein Lebenssinn, wo immer er sich erfüllt, liegt darin, sich für SIE zu entscheiden, oder für den Widersacher. So liegt alle Zukunft jedes einzelnen Menschtiers in IHRER Herrlichkeit, und ob das Menschtier diese Zukunft haben will, entscheidet es selbst. Will sagen, die moralischen Katastrophen des Menschtiers werden nicht durch die alberne Überzeugung bereinigt, aber zum Schluss ist doch alles gut ausgegangen. Ob sein Leben gut ausgeht, entscheidet ein jedes Menschtier selbst.
Die finale Katastrophe im Verhältnis des Jungen zu seiner alten Tante ereignete sich während der Zeit des Eisesschweigens, also nach dem Abgang des Ganzstiefelviehs, noch in der Industriestadt in der alten Wohnung über der Einkaufsstraße, Wohnung mit dieser Balkonbrüstung im fünften Stock, über die rechtzeitig zu flanken der Junge verabsäumt hatte, Zeit des Eisesschweigens, da die Pferdeschnauzige, allein nun mit ihrem Jungen, wohl ein Jahr – oder waren es anderthalb? – mit ihrem Jungen nicht ein Wort redete, ihn nicht ansah, ihn nicht beachtete, die unvorhersehbaren Ausbrüche rasender und spuckender Gewalt abgerechnet, da kam sie über ihn, schäumend, kreischend, dreschend, und, wenn der Junge zu Boden ging, auch tretend. Es wird eure Aufgabe sein, vor Ort, selber rauszufinden, was in einem Menschwesen vor sich geht, wenn es so handelt, vor allem, was hinterher in ihm vor sich geht, ob es Reue empfindet, ob es sich Besserung gelobt, oder ob es Entschuldigungen produziert, nämlich Entschuldigungen seiner selbst. So wie die Pferdeschnauzige. Ich musste das einfach tun, wusste die Pferdeschnauzige, ich konnte nicht anders, der Bengel hat mich dazu gezwungen.
Der Junge konnte sich nachher an zahlreiche solcher Orkanekstasen erinnern, aber niemals, nicht in einem einzigen Fall, was denn eigentlich der Anlass gewesen sei. Oder die Ursache. Ihm wurde klar, in seinem Alter, er konnte das niemals wissen, denn er war ein Kind, und was er auch mochte getan haben, niemals hätte das ein solches Hexentoben rechtfertigen können, eine solche Übergriffigkeit, einen solchen Sturm nackten Hasses, ohne die geringste Zurückhaltung, enthemmt, kreischendes Mänadenrasen, sich auslebend, schreie Selbstentfesselung.
Da er niemals den Anlass wusste – er war und blieb ein guter Junge, er stahl nicht, er log nicht, er war kein Brandstifter, er verbrachte die meiste Zeit seines jungen Lebens in der Bibliothek, oder mit ängstlichem Rennen von einem Schaukasten der damals noch zahlreichen Kinos zum anderen – blieb ihm ganz ebenso das Danach verborgen, und wenn er sich selbst dafür verfluchte. Die schreien Niederköterungen durch die Pferdeschnauzige blieben ihm im Gedächtnis, lebenslang, aber sie waren wie ausgerissene Filmschnipsel, er wusste das Davor und Dahin nicht, und das Danach auch nicht. Regelmäßig konnte er sich daran erinnern, wie er zu Boden ging, konnte sich noch erinnern an das knalle Davonstürmen der spuckenden Pferdeschnauzigen, an das Türenschlagen, mit dem sie in ihrer Höllenhöhle verschwand – aber schon davon, wie er, alleingelassen, vom Boden wieder hochgekommen war, wusste der Junge nichts mehr. Nichts und aber nichts. Keine Erinnerung, nirgends. Filmriss, Abriss aller Bilder. Es musste ein Danach gegeben haben, er lebte ja noch, Danach mit hingeknalltem Abendbrot auf dem Küchentisch, Abendbrot, dem er sich erst zu nähern wagte, wenn das Türkrachen der Höllenhöhle ihm anzeigte, die Luft ist rein. Er zitterte, ich meine das wörtlich, er begann zu beben am ganzen Leib, wenn er die Schritte hörte des Höllenviehs im Korridor, sie mochte zur Toilette gehen, was immer, und Königsabend war für ihn, wenn sie, was zum Heil seines Lebens und seiner Seele vielfach in der Woche geschah, „einen Termin hatte“ und spätestens um halb acht die Wohnung verließ, dann wusste er, vor halb elf kommt die nicht wieder, und er hatte den Abend und die Zeit und das alte Klavier für sich, ich habe das schon geschildert.
Ich sollte in Parenthese anführen, wie in ihrem Schwindlergewerbe üblich, empfing die Pferdeschnauzige nur ein bescheidenes Grundgehalt, das Hauptverdienst resultierte zum einen aus dem „Presseausweis“, ihr erinnert euch, es handelte sich dabei um jenen Erpresserausweis, der gegenüber dem Handel eingesetzt wurde mit dem Bedeuten, ich krieg Rabatt, sonst können wir ja mal über euch schreiben, und zum anderen und vor allem aus den reichen Zuzahlungen, mit denen jeder wahrgenommene „Termin“ honoriert wurde. Die Schwindlerin hatte nicht mehr zu tun, als den „Termin“, eine Theateraufführung, ein Konzert, ein Kinovorführung, was immer, abzusitzen, und dann darüber zu schreiben, was ihr gerade einfiel, Sachkenntnis wäre nur hinderlich gewesen. Je mehr „Termine“ also die Schwindlerin wahrnahm, desto reicher fiel ihre Entlohnung aus, das gönnte dem Jungen jene langen Abende der Befreiung, deren er noch im Alter mit Dankbarkeit gedachte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)