Der Lotse lief gleichmäßigen Schritts vor den Wagen her; er war ein guter Fußgänger, er griff weit aus und hielt immer das gleiche Tempo, ohne zu ermüden, und dabei schwang er seinen Wanderstab: tack – tock, tack – tock machte der auf dem Stein der Straßen.
Der Lotse hielt den Kopf mit dem runden Haarpilz gesenkt, er kannte ja den Weg, und im Übrigen verließ er sich auf seinen Hund, der würde Laut geben, wenn er etwas Ungewöhnliches bemerkte.
Der Lotse war der Lotse dieser Stadt, und hier gehörte er hin.
Der Maître betrachtete von seinem erhöhten Sitz über die Pferdeohren hinweg nachdenklich den hurtigen Wanderstab und den krummen Rücken und die kurzen, dicken Beine, wie sie ausgriffen mit unentwegtem Schritt.
„Bruder Herbert“, rief er schließlich mit erhobener Stimme, um den Lärm der Fuhrwerke und das Hufgetrappel zu übertönen, „Bruder Herbert, komm einmal zu mir, auf ein Wort, ich bitte dich.“
Der Lotse trat einen Schritt beiseite und blieb wartend stehen, bis der Einspänner ihn erreichte; dabei schaute er, ob der Maître ihn einlüde, hinauf auf den Wagen zu steigen, aber der Maître sagte nichts, und so nahm er seinen gleichmäßigen Schritt wieder auf, neben den Rädern her.
„Eine weite Reise habe ich hinter mir“, begann der Maître nach einer Pause. „Just eben komme ich von einem Mann, der oben an einem Seitenarm dieses Flusses lebt – du magst ihn kennen, er besucht gelegentlich die Stadt … Warlam ist sein Name …“
Der Lotse nickte. „Ich weiß von ihm“, sagte er einsilbig, und ließ nicht erkennen, auf welchem Fuß er stand mit Warlam.
Der Maître wartete eine Weile, ohne den Blick von dem Rücken des Pferdes zu wenden; aber da der Lotse schwieg, fuhr er schließlich fort: „Warlam erzählte mir, dass ihm ein Besuch geworden sei, ein Mann …“
Der Lotse schwieg, störrisch.
„Der Mann sei einen Tag geblieben, dann weitergereist, den Weg habe er nehmen wollen zu dieser Stadt, und er habe die Absicht gehabt, weiter nach Westen zu gehen, nach Frankreich hinein …“
Der Lotse wiegte den Kopf und sagte hinhaltend, ohne den Maître anzusehen: „Wie sah er aus, der Mann?“
Der Maître blickte träumerisch nach vorne, den Weg hinunter, wo der sandfarbene Hund trabte.
„In Paris haben wir auch Hunde“, sagte er, „und ein Freund hat mir gezeigt, wie man mit ihnen umgeht … dein Tier ist schön und groß, und manchen mag es Schrecken einjagen, solchen, die sich nicht auskennen …“
„Nun“, sagte der Lotse hastig, „warum sollte es dir auch Schrecken einjagen, gutmütig ist es und verträglich, und wir sind ja Freunde …“
„Nun eben“, bestätigte der Maître.
„Also“, fuhr der Lotse mit Überwindung fort, „wenn der Mann, von dem du redest, von dem dir Warlam berichtet hat, wenn der Mann untersetzt war, von meiner Größe etwa …“
Der Maître nickte.
„… und graues Haar hat, das einmal rotblond gewesen sein mag …“
Der Maître nickte. „Das ist er“, sagte er.
„… dann ist er hier durchgekommen, ja.“
„Wann?“ fragte der Maître knapp.
„Eine Woche mag verstrichen sein seither.“
„War er in deinem Haus? Hat er übernachtet bei dir?“
„Ja“, bestätigte der Lotse mürrisch.
„Und er hat gesprochen.“
„Ja.“
„Eine Geschichte erzählt.“
„Ja.“
Der Maître schwieg, und eine lange Zeit trottete der Lotse neben dem Einspänner her, ohne dass ein Wort fiel.
„Du bist ein Mann, der viele Menschen sieht, der viele Dinge hört“, sagte der Maître schließlich. „Ein gutes Bild hast du von der Welt. Du weißt von der Wahrheit der Geschichten.“
Der Lotse gab keine Antwort.
„Wir leben alle unser Leben, ein jeder auf seine Weise“, fuhr der Maître fort. „Du kennst die Gebote Vautrins, wie jeder sie kennt. Du weißt auch, dass wir Maîtres sie hüten, diese Gebote. Du weißt, was Vautrin sagte: die Welt ist die Fülle der Geschichten …“ Er sah auf den Lotsen hinunter und fügte mit scharfer Stimme hinzu: „Du weißt das?“
Der Lotse nickte. „Ja“, sagte er widerstrebend.
Sie schwiegen wieder, der Hund trabte vorneweg und wies den Weg, und der Lotse schritt im Staub der Räder.
Schließlich sagte der Maître: „Ist es wahr, was mir Warlam sagte?“
Der Lotse nickte und antwortete: „Es ist wahr. Er geht nach Westen. Wenn ihr aus der Stadt herauskommt – so weit werde ich euch nicht geleiten, der Weg ist leicht zu finden, ihr könnt ihn nicht verfehlen – wenn ihr also aus der Stadt herauskommt, werdet ihr auf eine Straßengabel treffen. Der linke Zweig eilt nach Westen, ins Land hinein und schließlich nach Paris, den werden die Kaufleute einschlagen; der Mann aber, nach dem du fragst, hat den rechten Zweig genommen, denn dieser dringt in die Wälder, führt zu abgelegenen Orten, wo kaum einer hinkommt, die wollte der Mann besuchen, denn die Menschen dort wissen wenig, sind empfänglich …“
Er senkte den Kopf. Der Maître nickte gelassen und sagte: „Ich danke dir für deine Auskunft.“ Dann schwieg er einen Augenblick, sah auf den Lotsen hinunter und fügte hinzu: „Denk daran: ich habe dich gesehen.“
Der Lotse zuckte zusammen, dann nickte er, ohne etwas zu erwidern, und beschleunigte seinen Schritt, um einen Vorsprung vor dem Pferd zu gewinnen.
So lief er dann wieder, zehn Schritte hinter seinem Hund, zehn Schritte vor dem Gespann des Maître, und er schritt wacker aus und hielt immer das gleiche Tempo, ohne zu ermüden, und dabei schwang er seinen Wanderstab: tack – tock, tack – tock machte der auf dem Stein der Straßen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)