Der Junge verging vor Gram, als er den Annäherungen der rundlichen Brünette endlich nachgab. Er liebte sie nicht er empfand nichts für sie und als es dann endlich zu der körperlichen Begegnung kam, nach der die Menschmännchen sonst so sabbern, hatte er das Gefühl, sein aufgerichtetes Glied in ein Stück totes nasses Fleisch einzuführen.
Er hörte nicht auf, hörte niemals auf, in Mädchengesichter hineinzuschauen, ängstlich, verhohlen verstohlen, schnell entzückt, schnell überzeugt, bist du es, du bist es, du musst es einfach sein, du bist das Glück, du bist die Erfüllung, er sah zuweilen ein Mädchenantlitz im Vorbeigehen auf der Straße, vorbei und niemals wieder, und wollte vergehen vor Entzücken und Verliebtheit, lebte wochenlang in rosenrotem Taumel und Nebel, er war nicht das einzige junge Menschmännchen, dem es so erging, aber er wollte und wollte sich nicht bescheiden.
Wie ich schon sagte, die jungen Mädchen redeten mit ihm, und er mit ihnen, ganz unbefangen immer dann, wenn er für sie nichts empfand und nichts von ihnen wollte. Sobald der kleine Stich des Entzückens sich meldete in seinem Herz, sorgte die destinatorische Zurüstung dafür, dass aus der Sache nichts wurde, der Junge fühlte sich auf die Dauer wie verhext, wie unter einem bösen Zauber, er erkannte die Mechanik und verstand nicht, wie das möglich sei, er wusste irgendwann unverbrüchlich, mit der ehernen Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes, sobald ich auch nur den leisesten Gefallen finde an einem Mädchen, wird sie sich abwenden von mir und mich zurückweisen mit Ekel und Verachtung. Die ich aber nicht will, für die ich nichts empfinde, die werden sich mir zuwenden mit Eifer.
Er mochte die Mädchen und jungen Frauen, mochte sie so sehr, hatte sie gemocht, seit er denken konnte, und wie ich schon sagte, hätte die Pferdeschnauzige wirklich geliebt werden wollen von ihrem Jungen, sie hätte einfach nur vor ihm sein müssen was sie war, junge Frau, und er wäre zu ihr übergelaufen mit fliegenden Fahnen, wie ein untreues Heer, aller sonstigen Loyalitäten vergessend.
Er wurde beobachtet bei seinem Umgang mit Mädchen mit jungen Frauen, es wurde über ihn geredet. Was sonst. Es ist des Spähens und Spionierens kein Ende unter den Menschtieren. Er hatte, wie üblich, keine Ahnung, dass über ihn geredet wurde, er konnte, wie üblich, sich nicht einmal denken, dass über ihn geredet wurde. Er verabscheute sich lebenslang selbst seiner Naivität wegen, aber die Naivität ist ein starker Ritter, der sich nicht besiegen lässt, nach und nach dämmerte dem Jungen, an wie vielen Fronten gleichzeitig seine Naivität für ihn kämpfte und siegte. Wie es den Menschtieren so geht, sah er lange an als Nachteil, was seine wertvollste Waffe war. Denn das Menschtier ist nichts in der Welt ohne seine Naivität. Hat es seine Naivität nicht mehr, ist es nur Lügengrinser im Dienste des Lederflügligen. Hat es sein Naivität nicht mehr, vieht es kritisch hinterfragend und dünkt sich groß, und ist nur Dreck, im Dienste des Lederflügligen. Das Menschtier braucht seine Naivität, um überhaupt IHRE Stimme zu hören. Das Menschtier braucht seine Naivität, um offen zu sein für das Unerwartete das Ungedachte das Unmögliche das Wirklichkeit wird. Das Menschtier braucht seine Naivität, um mit schöpfend ausgestreckten Bettlerhänden auf dem Bauch zu kriechen im Thronsaal vor der, die dort ausschenkt. Das Menschtier braucht seine Naivität, um die Worte aus dem Oberhalb zu empfangen, wie sie einsickern durch das undichte Dach des Menschlichen. Die Worte die Töne die Gewissheiten. Das Menschtier braucht seine Naivität, um gläubig der Wahrheit entgegenzutreten, dem zarten nackten Mädchen, das kommt und geht, wie es will.
Der Junge aber, wie andere Menschtiere auch, litt über lange Jahre und Jahrzehnte unter den Demütigungen, die seine Naivität in der Alltäglichkeit mit sich brachte, er ließ sich belügen und bestehlen und verhöhnen und ausnutzen, und er knirschte mit den Zähnen und dachte, wieso lerne ich das nicht, bis er verstand, ich lerne es deshalb nicht, weil meine Naivität das bessere Teil ist, das ich erwählt habe.
Das Geander schnüffelte ihm hinterher läufig, beobachtete seinen Umgang mit den heranwachsenden Frauen, beobachtete sein Interesse, beobachtete seine sehnsüchtigen Blicke. Beobachtete. Spähte. Kriegte raus.
Warum macht der das?
Ganz klar, wusste es im Geander. Der will ficken! Ganz klar! Sowas von klar.
Der will ficken!
Konnte sich das Andervieh anders gar nicht denken. Deshalb macht der sich immer an die Weiber ran. Brünstig der! Läuft rum und will ficken!
Der Junge hätte die Achseln gezuckt, hätte nur das Andervieh so gedacht. Irgendwann entdeckte er, auch die Mädchen konnten sich das anders nicht denken.
Der will mir an die Wäsche! dachte es spontan in den wenig entwickelten Hirnen. Nur deshalb! Nur deshalb macht der sich an mich ran! Weshalb denn sonst!
Der will dir an die Wäsche! rief es spontan heraus aus dem unterstützenden Freundinnengefleisch, heraus aus dem unterstützenden Gemutter. Nur deshalb! Nur deshalb macht der sich an dich ran! Weshalb denn sonst!
Was hätte der Junge sagen können sagen sollen? Hätte er anfangen sollen zu reden von dem vergessenen Park und seinem doppelt mit Kette und Riegel gesicherten Gitter?
Er wusste ja selbst nicht, was er wollte.
Doch, er wusste es. Er wollte das Wunder. Und er wusste, das Wunder wartet auf mich, vielleicht schon hinter dieser nächsten Ecke. Ich werde um die Ecke biegen, und ich werde dem Wunder in die Arme laufen.
Zuweilen war die Gewissheit so stark in ihm, dass er auf der Straße lief mit polterndem Herzen, das jagte vor Entzücken. Das Wunder! rief sein jagendes Herz. Es wird geschehen! Es wartet! Es ist schon da!
Ich muss euch nicht mehr sagen, was demgegenüber vom ersten Tag an die Geschäftsgrundlage seiner ganzen Existenz war. Die Geschäftsgrundlage war formuliert in dem einen einfachen Satz: dies wird niemals sein.
Dies wird niemals sein.
Ihr werdet verstanden haben, das Existieren eines Menschtiers spielt sich niemals folgerecht ab, es sei denn, es unterwerfe sich früh dem Lederflügligen, dann folgt all sein Wesen und Sein den Gesetzen der Schiefen Ebene, der es sich überantwortet hat. War bei dem Jungen nicht der Fall. Erwartet also nicht, dass der finale Vorfall, die finale Katastrophe, die dem Glauben des Jungen an die alte Tante den Todesstoß versetzte, in irgendeiner Hinsicht „zum Schluss“ gekommen wäre, am Schluss ihres Lebens, oder seines, was immer. Sie kam viel früher, und es war die finale Katastrophe, aber der Junge wollte sie nicht als solche akzeptieren, nicht einmal als solche anerkennen, und also erkannte er sie als final und als Katastrophe erst im Rückblick, gegen Ende seiner Leben, und nichts änderte sich deshalb, er hörte dennoch nicht auf, die alte Tante zu lieben, die Erinnerung an sie. Nie, bis zum Ende seiner Tage nicht, hörte er auf, sich zu wünschen, sie möchte noch am Leben sein.
Sie möchte noch am Leben sein, und er könnte endlich mit ihr reden. Ihr endlich alles sagen. Ihr endlich all die Fragen stellen, die niemals hatten verlassen dürfen die Angst ihrer Wartezimmer.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)