Er hatte die alte Tante umkleidet mit jenem Licht, das er aus sich herausquellen fühlte, jenem Frühlingslicht, wesenlose Durchsichtigkeit des Frühlingshimmels in den nördlichen Ländern seines Kontinents, Wind des Vorfrühlings, darin erste Fahnen wehender Wärme, flirrender Knospensturm im Aufgang der Frühe. Dies Licht. Dies Licht sah er, wenn er nur die Augen schloss, dies Licht wandelte ihn an, wenn er mit der alten Tante nach dem Flussufer hinüberspazierte, bewacht von der nimmermüden Hut des sandsteinernen Turm, mit diesem Licht umkleidete er die alte Tante, wir beide, und draußen der Rest der Welt.
Zwischen dem Wir Hier und dem Draußen gab es für ihn keine Kompromisse, wie auch, das Gedrauß verfolgte ihn, würgend vor Hass. Ohne die alte Tante war er im Wir Hier allein mit sich selber, und da war keine Aussicht auf Rettung. Da sein Glaube an die alte Tante erodierte, wurde seine Liebe herrenlos, zum Sterben nieder legte sie sich deshalb noch lange nicht. Sie wollte nicht sterben, die Liebe, sie wollte leben, und sie machte sich, arm und bloß, auf den Weg und suchte andere Gesichter. Andere Gesichter, sie zu lieben. Der Junge blickte nicht hinein in Mädchengesichter mit dem Gedanken, wirst du mich lieben? sondern vielmehr, wirst du dich von mir lieben lassen?
Es ist nicht zu sagen, wie verzweifelt er sich danach sehnte, dass ein Wesen vor ihm auftauchte, dass ihm zugelächelt und gesagt hätte, wenn du unbedingt willst, lieb mich, bitte, du darfst mich knuddeln und herzen und küssen wie du willst, ich will es mir gefallen lassen.
Er blickte hinein in Mädchengesichter. Er sah die Sylphide, all seine Welten brachen auf wie Frühlingserde unterm Sturm des Aufgangs, und sein Herzklopfen läutete wie Glockendonner. Er sah die Sylphide jeden Tag, er wagte nicht, sie anzureden, er war ein Junge, er war ein Kind, er wusste nicht, wie umgehen mit Frauen mit Mädchen. Kein Menschenjunge weiß das, er muss lernen, aus Probe und Erfahrung, und zum Schluss und vor allem anderen muss er lernen, der Menschenjunge, du musst dich mit dem zufrieden geben, was du bekommst, sonst bekommst du gar nichts. Und du musst so tun, als sei alles in bester Ordnung, als sei alles so, wie du es gewollt hast, dann hast du eine schwache Chance, dass, wenn schon nicht Glück, doch so etwas wie Zufriedenheit einkehrt in dein Leben, etwas wie Resignation, finde dich ab, mach das Beste aus den Dingen.
Der Junge, hinausgehend in die Welt des Geanders, hatte niemals anderes als Tritte ins Gesicht empfangen, Tritte mit dem Nagelstiefel. Die Unglücklichen unter den Menschtieren, jene Menschtiere also, zum Unglück geboren, lernen niemals sich zu begnügen, immer bleiben sie Hungerleider nach dem Unerreichbaren. Da sie nichts bekommen, wollen sie alles. An den Klippen ihrer Versagungen wächst die Sturmflut ihrer Hoffnungen, und sie denken nicht anders, irgendwann wird der Tumult der Erwartung überschwemmen das dürre Tiefland der Vergeblichkeit, sie sehen ja, wie schwach die Deiche sind der Lügenländer, und vor allem sehen sie, sehen sie jeden Tag, dass die Lügenländer tiefer liegen als die Unendlichkeit der Hoffnungssee da draußen, also, warum soll nicht eines Tages die Sturmflut kommen und verschlingen die Gebreite der Lüge?
Es hatte seine Gründe, dass der Junge niemals wagte, die Sylphide anzusprechen, wiewohl er sie doch sah, täglich sah, er hätte ihr ja einfach mal unverbindlich zulächeln können, solche Gesten hatte er nie erlernt, Lächeln hätte Kontaktaufnahme bedeutet, und er wusste ja aus Erfahrung, Kontaktaufnahme bedeutete dresche Reaktion, Hassgespucke und Prügeldroh, was will der Bengel, was denkt der sich, was bildet der sich eigentlich ein, sowas von arrogant, was ist das überhaupt, ist das ein Junge oder ein Mädchen, und sowas bildet sich auch noch ein, sich mausig machen zu können, glaubt, hier auftreten zu können, das werden wir dem austreiben.
Ihr versteht, so konkret wurden die Ängste des Jungen nicht, wenn er der Sylphide gegenüberstand, an der Bushaltestelle, und die Sylphide ihn nicht sah. Welten lagen hinter seiner Unfähigkeit, Kontakt herzustellen, Welten der Angst und der Scham. Er wusste ja, die Sylphide würde kein Parkgitter öffnen und ihn eintreten heißen, sie würde nicht das Parkgitter sorgfältig wieder schließen und doppelt Kette und Riegel vorlegen, sie würde nicht hineinführen ihn in die Tiefe des vergessenen Parks, sie würden nicht gemeinsam sein in den Wäldern selig verschollen, und alles Gedrauß draußen bleiben und vorbei sein für immer. Vielmehr würde Welt sein, wie sie immer war, und er müsste sich dem fremden schönen Mädchen vorstellen als der Schulversager, der er war, als der Hahaha, als der, der keine Freunde hatte, er würde dem Mädchen dem blonden zarten Mädchen die Höllenfigur aller Höllenfiguren die Pferdeschnauzige vorstellen müssen mit den Worten: meine Mutter. Er würde die Sylphide anreden, und würde die ewig schmutzige Unterwäsche spüren unter seiner leidlich sauberen Fassade, die stinkigen Socken unter den gebürsteten Schuhen. Er würde die benoteten Hefte ziehen müssen aus seiner Schultasche, das Urteil des Spindelmännchens das Urteil derer mit der eingeschränkten Lehrbefugnis würde über ihm hängen. Die Sylphide würde Eltern haben, und er würde gebückt hineintreten müssen in die Gewölbe ihrer Urteilsblicke. Man würde ihn taxieren, man würde ihn wägen. Er wusste ja, wie das Ergebnis lauten würde. Das Wunder der Sylphide war auch das Wunder ihrer Unerreichbarkeit, er wusste das und wusste es doch nicht, in ihm war der rasende Glaube, dies alles kann es nicht gewesen sein, das Leben hat noch etwas vor mit mir, dies alles ist nur Vorbereitung, ich werde durch den Dreck getreten, aber nur, um desto höhere desto glänzendere Entschädigung zu empfangen.
Denn das denken die Unglücklichen, das denken sie alle Tage ihres Unglücks, noch am Tag vor ihrem Tod denken sie, die Belohnung muss kommen, sie wird kommen, sie muss einfach, ich habe so furchtbar gelitten, ich habe all meiner Lebtage gelitten wie ein Tier, das war nicht umsonst, das kann gar nicht umsonst gewesen sein, dies alles war nur Vorbereitung, dies alles war noch gar nicht das wirkliche Leben, das wirkliche Leben kommt erst noch, und das wirkliche Leben wird sein überwältigende Entschädigung Genugtuung Rechtfertigung.
So denken die Unglücklichen, und der Junge, Kind das er noch war, dachte nicht anders. Wie hätte er anders denken sollen? Das ganze Leben lag ja noch vor ihm, er war noch nicht einmal ausgewachsen. Er dachte, dachte jeden einzelnen Tag, das Wunder, es liegt zum Greifen nahe, es wartet auf mich, nur um diese Ecke muss ich noch gehen, dann empfängt es mich, das Wunder, es wird stehen mitten auf meinem Weg, mit weit geöffneten Armen, und wird sagen, da bist du ja endlich, wo warst du nur so lange, ich habe so auf dich gewartet, aber nun bist du ja da, jetzt ist alles gut.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)