Wegwarten

Die Spuren alten Lebens sind voller Echos; voller Verklungenheiten.

Da war die Straße; gerade zog sie ihre Linie zum Zentrum der Stadt, berührte mit tausend Zärtlichkeiten die Blumen des Wartens, die Wegwarten schliefen ohne Zeit und ohne Dauer, voll von Erinnerungen, die zu Möglichkeiten geworden waren.

Hat die Zeit sich umgekehrt? Das Gedenken wandte sich: und siehe, es ward zur Vision, jede gefundene Spur eine Erwägung, jede Anteilnahme ein Entwurf.

Leben. Wer begriffe es schon. Der tastende Wille des Fleisches, der Faser, des Wachsens, geschieht alles unter diesem Himmel, und ist seiner kein Ende. Da war kein Prophet: jeder lausche hinein in sich selbst, dort redet die Stimme vernehmlich, unwidersprechlich.

Und das Ende der Tage wird sein ihr Anfang, die Spuren werden sein euch Zeichen, und folgen werdet ihr euren Vorzeichnungen, auf dass erfüllet werde das alte Wort, das vor dem Ursprung steht und nichts als Zukunft ist.

Das alte Wort: ein Wort waren die Straßen, die Häuser, die Brücken, die Stadt. Ein Wort voll vernehmlichen Klangs, das schwang als eine hallende Glocke, und schmolz im Blau der Horizonte. Ein Wort, und das Wort war Fleisch geworden, denn es war im Anfang, und der Anfang war das Wort.

Und siehe, ich sage euch ein Geheimnis: wir werden alle verwandelt werden, treiben schlafentlang ins Ende, das der Aufgang ist. Und wir werden sein ein Fleisch, wie es verkündet ward, und werden sein das Wort, das da heißt: wandellos.

Fasse es, wers kann.

Zog die Karawane durch die Stadt; schliefen die Wegwarten am Rande, am Rande der Straßen.

Da waren die kleinen Häuser, die flachen, in großer Zahl und weithin verstreut, die umringten die Stadt, gedrängte Herde. Fast überdeckte sie der Wald, die Kronen überragten die eingestürzten Dächer, bunt und wild das Wachstum, ungehemmt. Freie Flächen hatten umhütet die kleinen Häuser, da fasste das Leben nun Wurzel, drang ein in die Wände, die dünnen Wände, löste den Mörtel, dass er sank zu Staub und ward fruchtbar erneut, zu fruchtbarer Erde, drang ein in die Räume, die Böden, die Dächer, wurzelte im Holz der Gebälke, und kamen und rauschten die hellen Blätter, die Kronen, und sprengten die Schindeln, und vereint standen nebeneinander die Stämme, die braunen Stämme, borkig und drängend, und die Mauern, Lebensgrund, Lebensfläche, verwachsen, verfilzt, das war der Wald, der neue Wald aus Bäumen und Mauern, aus Gräsern und Balken, aus Blumen und wehenden Dächern, das war der Wald der Vorstädte, und sanken dahin die Mauern, brachen die Böden, da und dort, da entstand eine Grube, bald füllte sie der Regen mit Wasser, und wurde im dichten Wald ein Teich, gerahmt von altem Gestein und der Dauer des Wachstums, und ward Leben im Teich, ward Leben im neuen Wald, dem Wald der Vorstädte, kamen die Vögel, die Kröten, die Molche und Unken, kamen die Käfer und Mücken, die Spinnen und Schmetterlinge, kamen die Fische gar, kamen die Marder und Füchse, die Hasen und Rehe, kamen die Schlangen und Eidechsen, kamen die Dachse und die Igel, die Mäuse und Bilche, kamen sie alle, die kleinen Tiere, und lebten, lebten, lebten, wie es das Wort befahl, das Wort das da heißt: wandellos.

Zog die Karawane durch die Stadt; schliefen die Wälder am Rande, die neuen Wälder der Vorstädte.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 22.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)