Erosion

Die Bürde der Tage wäre dem Menschtier unerträglich, könnte es nicht ab und zu dahinwerfen, was ihm auferlegt. Es muss das Gepäck, ihm auf den Rücken geprügelt, ja immer nur eine Station weit tragen, so schleppen die Menschwesen im Laufe eines einzigen Lebens Lasten, kaum vorstellbar. Sie arbeiten und räumen. Was ein Menschtier, wenn es nur treu seine Aufgaben erfüllt, so alles von der Hand schafft, berührt die Gelände der Unglaublichkeit. Ihr werdet sehen.

Die Vorfälle, an deren Klippen das Vertrauen des Jungen in die alte Tante erodierte, nahmen kein Ende, und er zog nie die richtigen Schlüsse. Er erkannte die Schwäche der Tante, sah ihre Weggeducktheit, ihre Unterwürfigkeit, ihre offenbare Albernheit, sah ihre Sonderbarkeiten, die niemals ruhenden Selbstgespräche, die Zwanghaftigkeit ihrer Tagesordnungen, aber Schwäche ist nicht Schuld, er liebte sie dennoch, und vor sich selber leugnete er alles, was etwa als Absichtlichkeit im Tun der Alten hätte gedeutet werden können. Falsch ausgedrückt. Er leugnete dies nicht etwa vor sich selber, er weigerte sich einfach, darüber nachzudenken. Weigerte sich nicht etwa mit Bewusstsein und Absicht, er tat es einfach nicht. Bis in sein Alter hinein, ich sagte das schon wiederholt, kam ihm nicht der Gedanke, die alte Tante mochte mit seinen Todfeinden über ihn geredet, mochte an seine Todfeinde ihn verraten haben. Der Gedanke stieg nicht auf in ihm, dass sie auf der anderen Seite gestanden und ihm das verschwiegen hatte. Hätte sie ihm reinen Wein eingeschenkt und ihm eines Tages gesagt, höre, Kind, alles was wir miteinander reden, das erzähle ich deiner Mutter weiter das erzähle ich meiner Schwester weiter – ihm wäre der Boden unter den Füßen weggezogen worden, das Unterste der Welt hätte sich zuoberst gekehrt, er hätte die alte Tante angestarrt und gesagt, das machst du nicht, und sie hätte ehrlicherweise antworten müssen, das mache ich, jeden Tag, und ihm wäre das Weltgebäude zusammengestürzt – aber er hätte dann wenigstens gewusst, woran er war. Einmal wenigstens wäre die Mauer des Gelügs aufgebrochen worden, mit dem das Menschtier seine Wesenheiten umgibt, und er hätte Wahrheit gesehen. Das Menschtier will jedoch nicht, dass die Wahrheit ausgesprochen wird, nicht die Wahrheit über es selber, nicht die erste und einfachste aller Wahrheiten, dass SIE ist, nicht die Wahrheit über den Lederflügligen. Das Menschtier, dem Lederflügligen untertan, hat eine natürliche Aversion gegen die Wahrheit, es verbirgt die Wahrheit, einfach weil sie die Wahrheit ist, aus keinem anderen Grund, nicht um Vorteils und Gewinnes wegen, sondern aus Abscheu vor der Wahrheit, Abscheu vor meiner kleinen Schwester, dem zarten nackten Mädchen, und die alte Tante hatte diese zentrale Wahrheit in ihrem Verhältnis zu dem Jungen, diese eine wahrste aller Wahrheiten, dass sie nämlich den Jungen, der sie doch liebte, jeden einzelnen Tag verriet, diese eine Wahrheit hatte sie ihm niemals anvertraut. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, viel wurde geplappert und geredet, der Junge, auch als Heranwachsender, blieb immer Kind, und die alte Tante war immer kindlich und wurde im Alter kindisch, so blieb wenig, worüber nicht irgendwann einmal geredet wurde, aber über ihren Verrat schwieg sie eisern. Sie musste wissen, dass das Geplapper des Jungen in Arglosigkeit gründete. Sie verriet diese Arglosigkeit, jeden Tag. Sie wusste auch das Geplapper abzubiegen, wenn sie sah, das Reden des Jungen würde sie vor die Notwendigkeit der Entscheidung stellen, wie es das eine einzige Mal geschah, als der Junge anfing, die Schonungsfolie abzuziehen vom Bild des Ganzstiefelviehs, und die Tante ihm erregt ins Wort fiel, so darfst du über den nicht reden, das ist dein Vater!

Der Junge, fortan, schwieg über das Thema.

Das Schweigen der alten Tante aber zeugt wider sie. Wenn sie den Jungen niemals warnte, dass sie, was immer er sagte und tat, seinen Todfeinden weitererzählte, dem Geelter, der Grimmvettel, so offenbarte sie damit, dass sie auf der anderen Seite stand.

Niemals, nicht bis in die Jahre seines Alters hinein, vermochte der Junge sich dieser Wahrheit zu stellen, dieser Wahrheit, die eine seiner Lebenskatastrophen war, nur eine, aber vielleicht die eine fundamentale, die eine weltgründende. Denkt euch ein Menschmännchen, verheiratet mit einer Frau, die es liebt, inständig und mit zerbrechendem Herzen, und deren Familie dies Menschmännchen hasst, unter niemals endendem Intrigieren und Reden und Tratschen, und das Menschmännchen ahnt das Ausmaß des Geredes Minierens, schiebt den Gedanken aber von sich, bis der Tag kommt, da entdeckt es, die eigene Frau hat niemals die Seiten gewechselt. Stand von allem Anfang an auf der anderen Seite, auf der Seite der Hassfamilie, blieb dort, redete alles weiter, noch die intimsten Bekenntnisse ihres Mannes, verriet seine Stunden und Tage, tratschte und telefonierte, fiel ihrem Mann in den Rücken bei jeder Gelegenheit, war Familie, blieb bei der Familie, und der Mann war und blieb Fremder und Feind und Eindringling und Zugereister. Ein solches Menschmännchen ist übel dran, hat die Feindin die Todfeindin im eigenen Bett. Die ganze Familie liegt mit im Bett, die ganze Familie hört mit. Viel anders erging es nicht dem Jungen mit seiner alten Tante. Er war nicht mit der alten Tante verheiratet, aber er war ein argloses Kind, schutzlos wehrlos, und er liebte die alte Tante, seine Liebe fesselte ihn wie mit Stricken an die plumpe Gestalt, und noch in den Tagen seines Heranwachsens, da er dachte, ich ertrage sie nicht mehr, hörte er nicht auf zu denken, wie das gewesen wäre, wenn sie erwacht wäre und Gegenwehr geleistet hätte, ihm zur Retterin werdend.

Sie hatte immer auf der anderen Seite gestanden, und er, kleinkleines Kind, das er war, hatte nie etwas anderes gedacht als: ich und die alte Tante, und drüben das Geander.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)