Der Grasweg, der überwachsene, mündete in eine breite, gut unterhaltene Straße, die kam von Osten her und führte geradewegs auf die Stadt zu.
Das musste die Durchgangsstraße sein, und die Häuser waren ganz nahe, in den Wiesen lagerte schon vereinzeltes Getrümmer.
Dort vorne, irgendwo, musste der Lotse wohnen.
…
Das Haus war klein, eines in einer Reihe ganz gleich aussehender, die in gemessenen Abständen eine überwachsene Seitenstraße belagerten, und es war das erste; die linke Seite der Hauptstraße zuwendend.
Tatsächlich, Vautrin hatte zehn oder zwölf gleiche Häuser zur Auswahl hingestellt, das kommt vor, und der Lotse hatte das vordere gewählt, dem schien er große Mühe gewidmet zu haben, das Dach war gedeckt, spiegelnde Scheiben gesetzt in die Fenster, der graue Verputz zeigte keine Risse, und auf der Südseite fand sein Behagen ein ansehnlicher Gemüsegarten, eingezäunt, mit fetten Beeten, die mochten ihren Mann wohl nähren.
Am Straßenrand stand auf weißgekalktem Podest die Meldeglocke, und Waldemar sagte begierig: „Lass mich runter, damit ich …“
„Wenn du willst …“ sagte der Maître. Er blickte sich um nach Aslans Wagen, und Magdalena winkte beruhigend zum Zeichen, dass er Waldemar absteigen lassen solle.
Der kleine Junge schwang mit Kraft das Hanfseil, und der dicke Klöppel verrichtete sein Werk. Die Glocke klang kräftig und klar, weithin trug der Schall.
Das Pferd scheute, der Maître rief ihm beruhigend zu.
„Hallo“, tönte eine Stimme aus dem Haus, „ich hab euch gehört, ich komme gleich!“
„Komm wieder auf den Wagen“, sagte der Maître zu Waldemar, und Waldemar stieg auf, an den Radspeichen emporkletternd.
Die Tür des Hauses öffnete sich, die Angeln waren gut geschmiert, sie drehten sich geräuschlos, heraus trat ein kleiner runder Mann, barfuß, eine grüne Leinenschürze vor dem Bauch. Die Hosen hielt er mit einem Strick zusammengebunden, und das Hemd stand ihm offen, soweit es über dem Schürzenlatz zu sehen war; Haus und Garten lagen ihm wohl mehr am Herzen als sein eigenes Äußeres, auch schien er sich die Haare mit Hilfe eines Topfes selbst zu schneiden, denn kreisrunde Rasur zierte den Schädel bis über die Ohren, so dass der Mann aussah, als trüge er auf kahlem Kopf eine borstige gelbe Kappe.
„Vautrin sei mit euch“, grüßte er mit hellem Tenor, „ich …“ er blickte die drei Wagen entlang und schien sich unschlüssig zu sein, wen er anreden solle, doch dann siegte Abelards schwarzes Meistergewand, und vielleicht auch der Falbe, und der Mann wiederholte, mit höflicher Verbeugung gegen den Maître gewandt: „Vautrin sei mit euch. Ich bin Herbert, der Lotse dieses Ortes. Ihr wollt durch die Stadt geführt werden?“
„So ist es“, antwortete der Maître, „wart einen Augenblick …“ Er schwang sich herab vom Wagen und wartete, bis auch Aslan herbeigekommen war, dann sprach er: „Ich bin Abelard, Maître der Hohen Sorbonne, und das ist mein Freund und Bruder Aslan, der Herr dieser großen Familie, Kauffahrer sind sie …“
Der Lotse verneigte sich abermals und warf einen kennerischen Blick auf die Wagen. „Seid mir willkommen“, sagte er, „reich scheinen eure Wagen zu sein und voller Güter …“
„Nicht so sehr“, sagte Aslan vorsichtig und mit Blick auf das Lotsengeld.
„Bist du der einzige Bewohner dieser Stadt?“ fragte der Maître.
„Der einzige“, bestätigte der Lotse. „Es wohnt sonst niemand hier. Doch mangelts mir nicht an Gesellschaft, nicht wenig Verkehr herrscht, vor allem nach Westen zu, nach den reichen Bezirken Frankreichs … auch geschiehts nicht selten, dass Reisende bei mir übernachten, wenn sie nämlich zu ungünstiger Zeit kommen, so dass ich sie nicht mehr vor der Dunkelheit durch die Stadt bringen kann …“
„Aha“, sagte der Maître, „so bist du auch Gastwirt …“
Roger, der sich hinzugesellt hatte, fragte neugierig: „Was geschieht, wenn Reisende von der anderen Seite der Stadt kommen? … oh, und, ich bin Roger, so heiße ich, der Schwiegersohn bin ich dieses guten Mannes …“
Der Lotse verneigte sich abermals, wobei die Schürze schwer und knarrend knitterte, und sagte: „Sei auch du mir willkommen, wie deine ganze Familie. Also, da drüben, auf der anderen Seite der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses, wartet eine weitere Glocke, weithin trägt der Klang, wenn ich sie höre, mache ich mich auf den Weg, doch geschieht das selten, sehr selten, kaum erinnern kann ich mich, wann das letzte Mal … den Weg von Westen nach Osten nehmen die Reisenden gewöhnlich weiter im Norden, gegen Flandern zu.“
Der Maître nickte. „Das ist wohl wahr“, sagte er. „Hast du keine Angst, dein Haus und Besitz allein zu lassen?“
Gelassen erwiderte der Lotse: „Mein Türen und Läden schließen wohl, und für mich selbst brauch ich keine Angst zu haben, wisst ihr, ein Hund begleitet mich stets, der schützt mich.“
„Du hast einen Hund!“ sagte Roger beeindruckt. „Nicht häufig sieht man das …“
„Jaja“, antwortete der Lotse gleichmütig, „nun aber sagt mir, ob ihr nicht die Nacht verbringen wollt in meinem Haus, gastlich geöffnet ist es euch …“
„Nein, nein“, wehrte Aslan ab und streckte die Hände aus, „weiter müssen wir, zu lange schon haben wir uns aufgehalten … wir können es doch des heutigen Tages noch schaffen?“
„Wenig nach Mittag haben wir es“, sagte der Lotse, indem er zum Himmel blickte. „Vier Stunden wird uns der Weg kosten, mit euren Gespannen …“
„Nun also“, sagte Roger, „so machen wir uns gleich auf den Weg.“
„Da wäre das Wegegeld noch“, sagte der Lotse vorsichtig.
Waldemar hörte mit mäßigem Interesse zu, wie sie zu feilschen begannen, der Maître machte sich erbötig, für alle zu zahlen, aber das wollte Aslan nicht zulassen, in vollem Ernst, es hätte seine Selbständigkeit als Kaufherr gekränkt, nein, der Maître vielmehr sollte sein Gast sein … es endete schließlich, dass jeder für sich bezahlen sollte.
„Schon wieder bezahlen“, seufzte Roger, „und wieder ein Tag, da wir nichts verkaufen … es mangelt dir nicht an etwas, Bruder Lotse?“
„Nun, da wäre schon etwas, dessen ich bedürfte“, antwortete der Lotse, „aber ihr werdet es nicht haben, Papier ist es, Papier, darauf man schreiben kann …“
„Papier?“ fragte Aslan verblüfft. „Wir haben Papier … sag, Bruder Lotse, kannst du etwa schreiben?“
„Nein, nein“, antwortete der Lotse vergnügt, „nicht für mich ist es; doch kommen Reisende vorbei, gelegentlich, so wie dieser Maître, Vautrin sei ihm günstig allezeit, die wollen etwas schreiben, eine Nachricht, an wen immer es sei, und sie lassen das Geschriebene bei mir, dass ich es einem anderen mitgebe, der an den Ort fährt, oder doch in die Nähe, dahin es gerichtet ist.“
„Aha, ach so“, sagte Aslan.
„Nun nennt mir euren Preis“, forderte sie der Lotse auf.
Roger tat es, und der Lotse schlug aufjammernd die Hände über dem Pilzkopf zusammen.
Es trifft ja keinen Armen, dachte der Maître bei sich, und den Preis, zu dem er weiterverkauft, den kann ich mir schon denken.
„Nun, bedenke, von reinster Güte ist unsere Ware“, sagte Aslan. „Sie kommt von weither, aus den Papiermühlen am Oberrhein, Besseres kannst du nicht finden.“
„Und außerdem“, fügte Roger tröstend hinzu, „können wirs verrechnen, mit deinem Wegegeld, so ist uns allen geholfen.“
Der Lotse zeterte erneut, als er diesen Vorschlag hörte, und dann huben sie wieder an zu feilschen, dass es krachte.
Magdalena kam vorgelaufen zu dem Einspänner und fragte Waldemar und Eluard: „Geht es euch gut, ihr beiden?“
Waldemar antwortete: „Eluard hat mir erzählt, was er erlebt hat … mit Wölfen …“
„Soso“, sagte Magdalena, „dann langweilt ihr euch ja nicht.“
Eluard war verlegen. Mit Wölfen … wie prahlerisch das klang!
Die Männer schienen sich geeinigt zu haben, Roger verschwand bei seinem Wagen, kramte eine Weile und kehrte mit einer dicken, gefalteten Lage Papier zurück.
„Hier“, sagte er, „du magst es zerschneiden, wie du es gerade brauchst.“
„So wären wir uns also einig“, antwortete der Lotse. „Sitzt nur schon wieder auf, ich gehe unterdessen ins Haus, verwahre meinen Besitz, gleich komme ich wieder.“
Er verschwand durch seinen Garten in der Eingangstür, man hörte ihn drinnen rumoren und reden, und der Maître und die Kaufleute bestiegen ihre Wagen.
Als der Lotse wieder auftauchte, trug er einen dicken Wanderstock, und hinter ihm her trottete ein Hund, dessengleichen Waldemar noch nie gesehen hatte: es klatschte richtig, wenn er auftrat, das war eher ein Bär als ein Hund, mit riesigem Schädel und einem Brustkorb wie ein Kalb, bei Vautrin, und ganz gelb war er, eigentlich sandfarben, und hechelte durch das Maul, dass man sein Gebiss sehen konnte, ungeheuer …
Übrigens schien er sich für die Reisenden nicht zu interessieren, er würdigte weder die Wagen noch die Tiere eines Blickes, sondern folgte seinem Herrn, gemächlichen Schritts. Er musste Kraft haben wie ein Ochse, seine Schultern reichten dem runden Lotsen bis weit über die Hüften, von dem Kopf ganz zu schweigen …
Der Falbe stieg hoch, als er des Hundes ansichtig wurde, der Maître hatte alle Mühe mit den Zügeln, und er rief dem Lotsen zu: „Geh ein Stück voraus, und bring den Hund weg, hörst du!“
Der Lotse nickte gleichmütig, sagte ein paar Worte zu dem sandfarbenen Ungeheuer, das setzte sich gehorsam in Trab und entfernte sich zwanzig Schritte voraus.
„Bei Vautrin“, schimpfte der Maître zwischen den Zähnen, „eines Tages treffe ich auf einen, der sich einen Büffel als Schoßtier hält.“
Eluard und Waldemar platzten laut heraus vor Lachen, hast du das gehört, einen Büffel, und der Maître blickte auf zum Himmel und murmelte erneut und endgültig: „Bei Vautrin!“, und dann ging es los, ganz vorneweg trabte der Hund, dann folgte der Lotse, den Wanderstab rührend, hernach, in einigem Abstand, der Einspänner des Maître, und schließlich, gemächlich zuckelnd, die Ochsenkarren, und Aslan achtete darauf, dass die Ochsen dem Pferd nicht zu nahe kamen.
Eine Karawane war das, aber die Menschen schienen sich besser zu vertragen als die Tiere.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)