Am Abend, während die alte Tante ihre Kreuzworträtsel löste, oder besser, ausfüllte, saß der Junge gern bei ihr am Wohnzimmertisch, er auf der Couch, da sonst immer tragisch die Pferdeschnauzige sich hinzugießen pflegte, die alte Tante im Sessel, mehrere Kissen untergelegt, um besser auf der Tischplatte schreiben zu können. Der Junge, behaglich zurückgelehnt und die Beine ausgestreckt, las sich schon mal ein für die Nacht. Er spürte, wie er immer wacher und frischer wurde, und freute sich auf die langen Stunden nach Mitternacht, Stunden der Stille und Finsternis draußen, freute sich auf die Eingewobenheit in Buch und Musik, die auf ihn wartete, und der Sessel, in dem die Tante saß, war an den Armlehnen ziemlich verwüstet, die knochige Katze schärfte ihre Krallen daran, nichts in der Welt hätte ihr das abgewöhnen können.
Die Pferdeschnauzige kehrte wieder, die alte Tante war noch da, und am ersten Abend schritt die Pferdeschnauzige ins Wohnzimmer und steuerte die Couch an und rief, höhnisch triumphierend, in verletzenwollender Taktlosigkeit, sie setze sich jetzt dahin, das dürfe sie ja wohl, sie sei jetzt ja wieder da, während ihrer Abwesenheit habe wohl der Junge immer da gesessen.
Sie erwartete in gellender Hoffnung, das sei dem Jungen jetzt furchtbar peinlich, sie wollte, dass er sich vor Peinlichkeit winde, der Junge sah sie nur ratlos an, woher weiß die das? dachte er, dachte er ernsthaft, und er sah die alte Tante an und konnte sich den Blick nicht erklären, mit dem die alte Frau, ebenfalls schweigend, ihre Nichte ansah.
Nein, ernsthaft. Es dämmerte ihm nicht. Dämmerte ihm nicht, dass die beiden, Tante und Pferdeschnauzige, jeden Tag miteinander telefoniert hatten, und dass die Pferdeschnauzige noch letzte Fitzelchen an Information rausgequetscht hatte aus der Tante, über den Jungen, ja, am Abend sitzen wir am Tisch, der Junge auf der Couch ich im Sessel, jede Einzelheit war wichtig, und dann hatte die Tante gesagt bekommen, und er hörte es, der Junge, hörte es in seinem Alter, hörte das überströmende Nasen der Pferdeschnauzigen, triefend vor säuselnder Warmherzigkeit, der Bengel darf das auf keinen Fall wissen, dass wir über ihn reden, du darfst dem das auf keinen Fall sagen, wir Frauen müssen zusammenhalten.
Und die alte Tante, selig, dass sie gebraucht wurde, dass sie wichtig war, dass sie was galt in der Familie, sie hatte ausgepackt.
Vertrauensbruch. Der Junge hatte aufrichtig und wirklich geglaubt, er sei mit seiner alten Tante allein in der Abwesenheit der Pferdeschnauzigen, allein mit der alten Tante und der knochigen Katze, in Wirklichkeit hatte die Pferdeschnauzige die ganze Zeit in dem zweiten Sessel gesessen, der noch am Tisch stand und dessen Armlehne ebenfalls aufgeschlachtet war von den scharfen Krallen der knochigen Katze, es handelte sich um jenen Sessel übrigens, der zunächst dem Klavier stand und auf dessen Rückenlehne sich die knochige Katze so gerne niederließ, wenn der Junge die Tasten rührte. In diesem Sessel hatte die Pferdeschnauzige gesessen die ganzen drei Wochen und hatte jedes Wort mitbekommen, das der Junge gesagt hatte, jeden Huster, jedes Räuspern.
Warum war der das so wichtig? dachte er in seinem Alter. Sie hat mich gehasst, warum wollte sie alles über mich rauskriegen?
Und die alte Tante? Warum hatte sie sich nicht hingestellt und gesagt, ich bin gekommen, um deinen Jungen zu versorgen. Wenn du einen Spitzel brauchst, der ihn ausspioniert, such dir jemand anderen.
Sie hätte das nur so sagen müssen, ein einziges Mal, mit diesen Worten, und die Sache wäre erledigt gewesen, sowohl Pferdeschnauziger als auch der Grimmvettel wäre die Luft weggeblieben, die alte Tante hätte sich behaupten können. Statt dessen verrichtete sie für ihre dienstvorgesetzte Nichte niedrigste Handlangerdienste, war Spitzel Zuträger Ohrenbläser, Tante, liebe Tante, warum hast du das gemacht.
Der Junge war zu dieser Zeit längst die Obsession der Pferdeschnauzigen, er war der letzte verbliebene Mann in ihrem Leben, sie wollte alles wissen über ihn, alles rauskriegen, damit müssen wir uns noch beschäftigen.
Haltet fest, dass der Junge einfach nicht begriff, was die alte Tante tat, es dämmerte ihm erst in seinem Alter.
Irgendwann wurden der Pferdeschnauzigen wieder Ferien, nicht unbedingt fallend in die Schulferien des Jungen, aber der Junge dachte nur noch an das Hämmern und Pochen an seiner Tür, und sagte kalt, ich versorg mich selbst. Die Pferdeschnauzige gab nach mit überraschender Sofortigkeit. Sie hinterließ dem Jungen ein minimales Salär, denkend, der spart auf Teufel komm raus, um nur zurechtzukommen, und der Junge kam zurecht, er behielt noch übrig von dem ausgehändigten Betrag, und in seiner namenlosen Dummheit, denn er war zu dumm, um in dieser Welt zu leben, muss ich das erst noch sagen, in seiner namenlosen Dummheit also, die er für Anständigkeit hielt, und sie war es ja auch, Anständigkeit in einer Welt der Monster, in seiner Anständigkeit also rechnete er den Überschuss brav ab mit der zurückgekehrten Pferdeschnauzigen, anstatt ihn als sein Erspartes, buchstäblich vom Munde Abgespartes in die Tasche zu stecken, jeder andere Menschenjunge hätte das gemacht, wirklich und ausnahmlos jeder, er nicht, er hatte sogar die Kassenzettel aufgehoben vom Supermarkt, und hatte noch Angst, die Pferdeschnauzige würde ihn der Verschwendung bezichtigen, statt dessen sah er das freudig-ungläubige Aufleuchten in ihren Augen, als ihr die Botschaft wurde, sie bekam noch was raus, sie hatte wohl ernsthaft gedacht, der Junge müsse sich Geld leihen, um überhaupt zurechtzukommen, und dann tat sie, was anders von ihr nicht zu erwarten stand, als sie das nächste Mal „nach Hause“ fuhr, nämlich zu Grimmvettel und Großvater, händigte sie dem Jungen ein Salär aus, das sie um genau den eingesparten Betrag gekürzt hatte. Sie sagte nicht etwa, du bist so sparsam, du kannst ruhig ein bisschen mehr ausgeben, kauf dir doch was Ordentliches zu essen, sie schob ihm vielmehr die verminderte Summe in die Hand mit dem Bemerken, mehr brauchst du ja nicht.
Wenn ich das so erzähle, wird mir unter dem Erzählen erst so recht klar, was für ein Stück Dreck diese Person war. Menschdreck eben. Seht selber zu, wie ihr damit zurechtkommt. Vergesst nie, dass die Menschtiere Wesen sind, zusammengestrickt aus Körper und Geist, so dass bei ihnen die Gefühlskälte die Grenze zur Körperverletzung überschreiten kann. Leicht. Und die Pferdeschnauzige überschritt diese Grenze in voller Absicht, wieder und wieder und wieder und wieder. Sie wird Rede und Antwort stehen müssen dafür, wenn der Tag kommt.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 19.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)