… er hörte Zeit seiner Leben nie auf, auf Rettung zu hoffen, und die meisten Jahre lebte er in der Gewissheit, sie kommt, die Rettung, sie kommt ganz gewiss, und die Gewissheit umkleidete seine Tage mit Glanz, die Rettung war immer eine Retterin, er dachte sich das nicht anders, er konnte sich das nicht anders denken, und er hatte ja recht, er fühlte SIE in der Berge seines Herzens, aber er hätte doch so gerne ein Leben gehabt, hienieden, nie hörte er auf, darauf zu hoffen.
Dass die alte Tante die Retterin nicht war, das tagte ihm als endlose Dämmerung zu einem kalten Tag, zu dem er nicht wirklich erwachen wollte. Wach werden musste er dennoch, dafür sorgte die alte Tante selbst.
Irgendwann kam dieser schäbige Augenblick, da gestand er sich ein, musste er sich eingestehen, ich ertrage sie nicht mehr. Im Rückblick wusste er, ich kann mit gutem Gewissen sagen, ich wollte das nicht. Es geschah vielfach, die Erinnerung schmolz alles ein zu einer währenden Dauer, er war der Junge, liegend in seinem Ferienbett, und an die Zimmertür hämmerte die alte Tante. Sie kam und hämmerte, nicht etwa alle halbe Stunde, sondern alle drei Minuten. Vielleicht waren es auch dreieinhalb Minuten, oder zwei Minuten und fünfzig Sekunden, was verschlägts. Auf jeden Fall hielt sie den Puls der Intervalle sekundengenau ein, und der Junge, rasend sich ziehend die Decke über den Kopf, fühlte wirklichen Hass in seinem Herzen. Sie stand auf, da läutete die Kirchturmglocke die halbe Stunde, halb acht, die Wohnung in der neuen alten Stadt lag im Schatten eines nicht weiter bemerkenswerten Kirchturms, Neubau wie die ganze Straße, die Bewohner der neuen alten Stadt gehörten mehrheitlich der Denomination an, die das Mädchen verehrte. Dies war noch eine Zeit, da schlugen die Kirchenglocken auf dem Kontinent des Jungen die ganze Nacht, abmessend zirkelgenau die Viertelstunden. Und der Junge erwachte nervös aus seinem Ferienschlaf, er fühlte sich ja sicher, er fühlte sich gut, die Pferdeschnauzige war aushäusig, in der Heimatstadt „bei den Eltern“, da hatte sie gut Platz, denn die alte Tante war schon exiliert worden aus ihrer eigenen Wohnung, und die alte Tante war gekommen, den Jungen zu versorgen, Pferdeschnauzige und alte Tante waren sozusagen aneinander vorbeigefahren, und alles hätte gut sein können, wäre nicht die alte Tante Punkt halb acht aufgestanden und hätte sich für den Tag gerüstet. Die alte Tante war wirklich ein guter Mensch, sie sagte sich, lass ich den Jungen noch eine halbe Stunde schlafen. Die ganze Geschichte ist nur deshalb bemerkenswert, weil der Junge ein alter Mann werden musste, um der Wahrheit einsichtig zu werden. Die alte Tante rüstete sich hoch, wusch sich, bereitete das Frühstück, alles in weniger als einer halben Stunde, in solchen Dingen war sie effizient, sie wirkte kahl und unausgeschlafen um diese Zeit, sie war seit Jahr und Tag in Rente, sie hätte lustig hineinschlafen können in den hellen Morgen, warum denn nicht, sie stand auf um halb acht, warum denn nicht. Und zehn vor acht klopfte sie an die Ferientür des Jungen, annoncierend, steh jetzt auf, es ist heller Morgen. Dreieinhalb Minuten später polterte sie erneut an der Tür, hast du gehört, es ist heller Morgen! Der Junge fraß an seiner Bettdecke. In exakt gezirkelten Abständen von dreieinhalb Minuten bestürmte sie die Jungentür, sie hatte inzwischen Schuhe an, und da sie grundsätzlich Schuhe trug mit leicht erhöhten Absätzen, selbst auf langen Spaziergängen, hörte der Junge in seinem Bett sie heranpoltern. Sobald die Kirchturmglocke die Acht geschlagen hatte, lautete ihr klopfender Ruf: Steh jetzt endlich auf, es geht auf neun! Der Junge schlief wieder ein, sie öffnete übrigens niemals die Tür, sie setzte sich in der Küche an den Frühstückstisch, alle dreieinhalb Minuten riss es sie hoch, sie stampfte durch die Wohnung, dass Kerben sich gruben ins Linoleum, und polterte an der Tür des Jungen, er hörte das wie durch einen Nebel, er war nicht bereit aufzustehen, aber schlafen ließ sie ihn auch nicht, alle dreieinhalb Minuten stand sie an seiner Tür, sie ließ ihn nicht schlafen, und sobald die Kirchenglocke die neun geschlagen hatte, lautete ihr Ruf, hörst du denn nicht, steh jetzt endlich auf, es geht auf zehn!
Er war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, der Junge, selbst ihm dämmerte, mit der armen Alten stimmt was nicht. Er kroch irgendwann aus dem Bett, gerädert, und die alte Tante triumphierte. Wurde aber auch Zeit, wusste sie. Der Junge hatte die ganze Nacht lang gelesen, er wurde überhaupt erst gegen zehn Uhr abends so richtig wach, dann aber glockenwach, und seine Lesenächte brannten im Licht niegesehener Wunder, man hatte damals schon Kopfhörer, wenn auch noch nicht die zartgliedrigen Knöpfe späterer Zeiten, sie sich ins Ohr zu schieben, egal, man hatte was man hatte, der Junge stülpte sich die gepolsterten Schalen über die Ohren und hörte Musik aus seinem Radio, schon damals, all seiner Liebe zum Hofoperndirektor zum Trotz, fühlte er den Sog der Popmusik, die man die ganze Nacht hindurch hören konnte, skandiert von den stündlichen Kurznachrichten, und während er also dem melodischen Geplätscher lauschte, überholten seine Augen die Zeilen hastig umgeblätterter Seiten, er fraß sich in diesen Nächten durch ganze Bibliotheken, wundersam beseligt, und irgendwann gegen Morgen, da draußen die Frühe rumorte, wurde ihm bettschwer, und dann hämmerte die alte Tante gegen die Tür, steh jetzt auf, es ist heller Morgen. Wenn er Glück hatte, hatte er zwei Stunden geschlafen. Er hatte Ferien, er bekam niemals genug Schlaf. Er hatte nicht die Kraft, geschweige denn den Willen, sofort aufzustehen, und die alte Tante paukte mit bombastischer Energie gegen seine Tür, im Abstand von dreieinhalb Minuten, steh auf, es geht auf zehn. Wenn er noch mehr Glück hatte, ging sie einkaufen, und ihm wurde eine halbe Stunde ununterbrochenen Schlafes geschenkt, aber die halbe Stunde war schnell vorbei, und die alte Tante wieder in der Wohnung, war ihr erster Gang zur Tür des Jungen, prügelnd und polternd, steh auf, es geht auf elf. Strafgefangene werden so nicht gequält, dachte der Junge. Am Nachmittag, wenn er mit der alten Tante spazieren ging, versuchte er ihr klarzumachen, dass er Ferien hatte, dass er ausschlafen wollte, er hätte gegen eine Wand reden können. Manisch, zwanghaft ging des nächsten Morgens ab zehn vor acht das Hämmern gegen seine Tür wieder an, und der Junge liebte seine alte Tante, und er dachte, ich ertrage sie nicht mehr, ja, das dachte er. Was er unbegreiflicherweise nicht dachte, das war das Offensichtliche, das Naheliegende, das Selbstverständliche. Die alte Tante handelte unter Einfluss, die alte Tante handelte im Auftrag. Der Junge kam einfach nicht auf die Idee, dass die Pferdeschnauzige, mit der Hellsichtigkeit des Hasses wissend, dass der Junge würde ausschlafen wollen, der alten Tante gesagt haben könnte, und sieh zu, dass der nicht bis in die Puppen schläft. Der soll ruhig aufstehen, wie andere Leute auch. Dieser Halbsatz, wie andere Leute auch, war, so erkannte der Junge in seinem Alter, mit Gewissheit gefallen, eingedenk der Furcht der alten Tante, was sollen denn die Leute denken. Gut möglich, dass es nicht einmal die Pferdeschnauzige gewesen war, die solcherart die alte Tante instruiert hatte, sondern im Auftrag die Grimmvettel. Gewiss aber war, die alte Tante verriet den Jungen, so, wie sie ihn Zeit seines jungen Lebens schon verraten hatte. So wie sie jeden Morgen in der Küche der Grimmvettel unterbreitet hatte, was der Junge jetzt wieder gesagt und getan habe, so hing sie nun jeden Morgen ab zu minutenkurzem Telefongespräch mit der Grimmvettel mit der Pferdeschnauzigen, denn Telefon stand in beider Wohnung, und gab Depesche und Bulletin, wie es um den Jungen stand, und vor allem natürlich, dass er immer noch nicht aufgestanden war. Beide, Grimmvettel wie Pferdeschnauzige, wussten in grinsender Eintracht, die alte Tante würde fußeln wie an Stricken gezogen und auf den Befehl ihrer vorgesetzten Hexenschwester den Jungen aus dem Schlaf prügeln. Gar nicht zu sagen, wie viele Fliegen da mit einer Klappe geschlagen waren. Nicht nur wurde der Junge gequält bis aufs Blut und um seinen Schlaf gebracht wie ein gefolterter Gefangener, sondern er würde auch anfangen, seine geliebte alte Tante zu hassen, die alte Tante aber würde nicht anders können, wie eine Marionette würde sie rennen, dem Befehl der Vetteln zu gehorsamen. Und der Junge, nervös und fliegend, dachte nur noch, ich ertrage sie nicht mehr, ich ertrage sie nicht mehr.
Die alte Tante hätte tausend Dinge denken können. Lass das Kind doch schlafen. Der hat Ferien. Man ist nur einmal jung. Irgendwann kriegt der Hunger, dann kommt der von selber raus. Sie hatte genug zu tun, nach drei Wochen ihres Besuches glänzte die Wohnung wie neu, verrammelt und zerrümpelt wie sie war bei ihrer Ankunft. Sie sagte mit beängstigender Systematik dem Staub den Kampf an, und der Staub, unter der Gerechtsame der Pferdeschnauzigen an leichte Siege gewöhnt, war ihrer Kampfkraft nicht gewachsen. Dem Jungen wäre das Dauergeheul des Staubsaugers so egal gewesen wie nur was, aber dieses Poltern an seiner Tür in Dreieinhalbminutenabständen fraß seine Widerstandskraft auf, sie war ohnehin nicht groß.
Ich ertrage sie nicht mehr, dachte der Junge, und fühlte sich elend und schuldbewusst, und wenn er der alten Tante zu erklären suchte, er habe eben die ganze Nacht gelesen, das Buch sei so interessant gewesen, sagte sie eifrig, aber du kannst doch auch am Tag noch lesen!
Es war aussichtslos, aber dass sie jeden Morgen am Telefon hing und Instruktionen empfing von den vorgesetzten Vetteln, das kam ihm nicht in den Sinn, er dachte, er sei allein mit ihr.
Die Menschmännchen glauben oft, sie seien allein zum Beispiel mit ihrer Ehefrau, und reden und tun, als seien sie wirklich allein mit ihr, bis sie entdecken, die Mutter der Frau liegt mit im Bett. Dieser Tag des Begreifens ist dann gewöhnlich auch der Tag, da das Menschmännchen in Schweigen versinkt. Hinter den verschlossenen Türen des Schweigens wohnt nur noch ein einziger Gedanke, nämlich derselbe, der den Jungen heimsuchte beim Poltern der alten Tante: Ich habe sie geliebt, aber nun ertrage ich sie nicht mehr.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)