Stalaktiten

Lichter wurde der Wald, der Fluss bog nach Westen, noch vor der Stadt in den großen Strom zu münden; der Weg hielt weiterhin südwestliche Weisung, durch hellen Auwald.

Hochrädrig glitt der Wagen des Maître durchs Gelände, die Ochsen folgten stampfend, breit zerteilten sie das Weggestrüpp, schweren Schiffen gleich, hinter denen die Flut zusammenschießt. Und die Wagen rumpelten und schütterten, die Plane schwankte; wer auf dem Kutschbock saß, wurde ordentlich durchgerüttelt.

Aslan hob witternd die Nase.

„Die Stadt“, sagte er.

Kein Zweifel. Ein feiner Geruch wehte durch die graue Luft, leise, doch unverkennbar: der Geruch der großen Städte, jedermann kennt ihn. Das ist die sachte Ausdünstung zerfallenden Steins, in den sich suchende Wurzeln graben, ihn zersprengend, zerlösend, das ist der Geruch des Wassers, das in alle Ritzen dringt, in Erde, in Ziegelstein, in Holz; in Asphalt und Beton. Da weht das Gras auf Dächern und schütteren Mauern, Efeu und alle Kletterblumen wachsen im Wändegewirr, Bäume wurzeln knirschend in geschützten Winkeln aneinandergrenzender Häuser, im siebten Stock, und überall Gras und Gebüsch, und Wasserläufe und Teiche. Stein: der nährt die Pflanzen, durchlebt wird er von Würzelchen und Fasern, die zwingen sich ins stärkste Material, ins härteste, das zerkrümelt gehorsam, zerbröckelt, gibt Nährstoff her, nährt Organisches.

Ein wehender Wald sind die Städte.

Der Geruch strich durch dich Luft. „Du hast recht“, sagte Magdalena elektrisiert, „das ist die Stadt.“ Sie legte ihr Strickzeug beiseite, schaute gespannt den Weg hinunter, durch die Bäume. Eine große Stadt, immer ist das etwas Besonderes, ob bewohnt oder nicht, aufregend sind die Werke Vautrins, lassen den Puls höher schlagen …“

(Später rollte vor ihnen der Hügelrücken der Großen Straße: Woge aus dunklem Grün, vermischt mit dem Silberschimmer der Birkenstämme.

Der Wall.

In der steilen Flanke gähnte als hohes, fast rundes Loch ein Durchlass, Vautrin hatte ihn geschaffen.

Dunkelheit drinnen. Der rötlich glosende Kienspan beleuchtete eine tropfende Wölbung: Fetzen wehten von der bröckelnden Decke, Erde, Wurzelgewirr, Flechten und Moder. Die Wände hoch kletterten als dichter Pelz fächerförmige Pilze, zusammengerottet in übereinandergeschachtelten Konsolen, drängend vor Saft und bleichem Wachstum.

Stalaktiten lasteten im Gewölbe, schwer und brüchig, verloren sich in dunkelspiegelnde Pfützen, die klangen wie irdene Glocken im Klöppel des Tropfenfalls.

Die Wagen rumpelten, erfüllten den Hohlschlauch mit Gedröhn, es hallte wider von den nassen Pilzwänden, hohl schollerte das Klack-klack der Ochsenhufe, die Planen schwankten und schwangen, die Frauen schritten voran, helle wehende Kleider über den nackten Beinen; vor ihnen die Sonne.)

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)