Es geschahen die Dinge, die entzogen sich jeder Begreifbarkeit, aber das galt ja für die meisten Ereignisse in den Leben des Jungen, die alte Tante hatte schon nicht mehr lange zu leben, da hielt sich der Junge für ein Tage bei ihr auf, nur für ein paar Tage, denn mehr als für ein paar Tage hielt er es gar nicht aus bei ihr, sie erhob sich morgens zur vorherberechneten Minute, und in der kleinen Wohnung musste der Junge mit ihr aufstehen, ob er wollte oder nicht, und dann saß er den langen Vormittag da mit einem Schädel, darin hämmerte die Übermüdung, er hatte die ganze Nacht gelesen, natürlich hatte er das, er hatte ja Ferien, war erst eingeschlafen, da wurde es draußen hell, und kaum waren ihm die Augen zugefallen, drängelte und quengelte die alte Tante an der Tür, steh auf, es geht auf neun! – es war fünf Minuten nach acht – aber aufgestanden musste werden, und der Tag quälte sich dahin, und dann klingelte es an der Tür, Pferdeschnauzige und Grimmvettel kamen zu Besuch, und der Junge stand da und wunderte sich über die Angespanntheit, mit der die alte Tante die Gäste empfing, und der Junge stand da und hörte die Pferdeschnauzige aufschreien, hier ist das! und ich such das schon überall! Und der Junge stand da und hörte die Künstlichkeit und unverfrorene Falschheit des Tons, stand da und hatte dem Ton nichts entgegenzusetzen, und die Pferdeschnauzige querte mit drei raschen Schritten das Wohnzimmer der alten Tante, und die alte Tante stand da mit hängenden Armen, und der Junge stand da, und die Pferdeschnauzige riss triumpfbrüllend eine porzellanene Schale hoch, geziert mit vergoldeten Widderköpfen, und drückte sie sich an die Brust und brüllte noch einmal, bekräftigend, überall hab ich das schon gesucht, und die Grimmvettel lachte beifällig, und der Junge stand da und hörte das Lachen, Wissen brach auf in allen seinen Geländen, die Schale war schon im Besitz der alten Tante gewesen, da hatte er gerade eben erst laufen können, die Schale war niemals in irgend einem anderen Besitz gewesen als in dem der Tante, und quellende gebieterische Gebiete rumorten in ihm, sag was, und er stand und sagte nichts, und die alte Tante stand da, stand da mit hängenden Armen und sagte nichts, und die beiden Höllenvetteln zogen ab mit ihrer Beute, unter den Augen der alten Tante, bestahlen die alte Frau unter deren Augen, bestahlen sie, indes sie wehrlos das mit sich machen ließ, bestahlen sie in ihrer eigenen Wohnung, zogen triumpflachend ab, und noch im Treppenhaus brüllte die Pferdeschnauzige, einstudiert: Hier war das also! Und ich such das überall!
Bis zu den Tagen seiner Tode verlor der Junge nicht die Scham über diesen Vorfall. Dass er nicht kalt eingeschritten war, dass er nicht gesagt hatte, das ist nicht euer Eigentum, ihr seid Diebe.
Aber er wusste auch ahnte auch wusste auch, hätte er so geredet, die alte Tante hätte hastig begütigend eingewendet, nein, lass doch, bestimmt haben die recht, ich bin ja so vergesslich.
Der Junge sah an ihrem Blick, dass sie wusste, sie wurde bestohlen, in ihrer eigenen Wohnung, unter ihren eigenen Augen, und er seinerseits wusste, sie hätte die Höllengeburten noch verteidigt, wäre er dazwischen gegangen.
Ich hätte es dennoch tun müssen, dachte er. Dabeizustehen bei einer solchen Viehtat und nichts zu sagen —
Er war gelähmt gewesen, fassungslos, überrumpelt. Aber das war nicht der Grund seines Schweigens gewesen, nicht der Grund seiner hängenden Arme, er wusste es. Der Grund war eingefressen in sein Fleisch, der Grund war Angst, Angst vor den Höllenschwestern, Angst, eingebrannt ins lebendige Fleisch von Jahren und Jahren der Bespuckungen und Beprügelungen und Beleidigungen und Verhöhnungen, Jahre der klatschenden Schläge ins Kindergesicht, Angst, eingefressen in Adern und Haut und Nerven, Angst, stärker als die Empörung.
Da aber die Angst stark war, weigerte die Empörung sich zu schlafen, und richtete sich gegen den Jungen selber, es war ja auch sonst niemand mehr da in seinem Alter, gegen den sie sich hätte richten können.
Wie konnte ich so schwach sein, begehrte der Junge gegen sich selber auf. Wie konnte ich ein solcher Jämmerling sein.
Er war es. Die schöne porzellanene Schale stand nachher im Wohnzimmer der Pferdeschnauzigen, und er hätte hingehen können eines Nachmittags, die Schale sorgsam verpacken und sie der alten Tante zurückschicken. Es war nicht so, dass er sich nicht getraut hätte. Die Möglichkeit war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er der Höllenbrut hätte entgegentreten können entgegentreten müssen, am Abend wäre erregt schreiend die Viehin auf ihn eingedrungen, wo ist die Schale, er hätte knapp antworten müssen, hab sie der alten Tante zurückgegeben, und dann hätte er der hochschnappenden Vettel ins Gesicht sprechen müssen, du Lügenvieh, du glaubst, dich aufspielen zu können? Diebin und Lügnerin, was für ein Vieh seid ihr, was für eine Brut seid ihr, habt euch verabredet vor der Tür, die alte Frau zu bestehlen, Gaunervieh?!
Und das hatten sie, kein Zweifel, die Pferdeschnauzige hatte die Schale bei der alten Tante gesehen, hatte gedacht, wie komm ich da ran, da weiß ich Rat, hatte die Grimmvettel geschnaubt, und dann hatten sie das Ding ausbaldowert, beide im grinsenden Wissen, die Alte wehrt sich nicht, die ist doch viel zu dumm, die lässt sich das gefallen, und wenn sie doch was sagt, dann bleiben wir beide fest dabei, die Schale gehörte schon immer dem Goldenen Kind, ist bei der Flucht irgendwie in die Hände der Tante gekommen, müssen wir beide nur fest dabei bleiben, kann die gar nichts machen, die Flucht, die weiß doch gar nicht mehr, wann das war, der Krieg und das alles, das ist für die doch wie gestern, die weiß doch gar nicht mehr richtig, wer sie ist!
Sie hatten sich verabredet, gemeinsam verabredet, die Tante und Schwester zu bestehlen, sie hatten es getan vor den Augen des Jungen, und der Junge hatte dagestanden und zugesehen, und wäre er eingeschritten, hätte er erleben müssen, die alte Tante hätte den Dieben noch recht gegeben.
In seinem Alter hatte er Tage, da war er fast dankbar für diesen Vorfall. Unwiderleglich und kalt wie die nackte Wand einer Gefängniszelle stand der Vorfall vor ihm als Beweis, dass die beiden Höllenschnepfen waren was sie waren, Dreck, Fleischabfall, moralisch korrupte Höllengeburten aus dem Unterhalb des Menschlichen. Die vollkommene Lieblosigkeit des Diebsaktes ließ keine Beschönigung keine Beteuerung mehr zu. Sie fühlten auch im Nachhinein keine Reue, kein Mitleid mit der Bestohlenen. Sie verließen sich grinsend auf die Schwäche der alten Frau, und holten sich raus aus der Wohnung, was sie als ihr Eigentum betrachteten. Das gebührt uns! das gehört uns! Der Junge sah zu, die alte Frau sah zu. Der Junge sah in diesem Augenblick, wie das Leben der alten Tante auseinanderfiel, nichts gehörte ihr, nichts hatte ihr je gehört, immer hatte sie wehrlos dagestanden mit hängenden Armen und sich gefallen lassen, was ihre dienstvorgesetzte Höllenschwester über sie verhängte. Dieser eine Vorfall, dessen Zeuge er geworden war, er hatte sich im Leben der alten Tante tausendfach zugetragen. Dieser eine Vorfall, er war das Leben der alten Tante, in nuce.
Mit namenloser Scham dachte er daran, dass er bei dem Vorfall quantité négligeable gewesen war. Die Viehgeburten hatten gewusst, er würde daneben stehen, während sie den Diebstahl an der wehrlosen alten Frau verübten, und so wie sie grinsend unter sich gesagt hatten, die wehrt sich doch nicht, dazu ist die viel zu blöd, ganz genauso hatten sie in der Verviehtheit ihrer Gemüter zueinander gesagt – was, gesagt? nicht einmal das, hatten einfach gewusst, es hatte der Worte gar nicht bedurft – und der Bengel, der sagt sowieso nichts, der steht bloß da und guckt dumm, haha-hahaha.
Haben mich richtig eingeschätzt, dachte der Junge mit einem Gefühl, als müsse er jetzt die Welt vernichten.
Ihr habt das Gericht über euch selber gesprochen, dachte er.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 14.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)