Es ist kaum möglich, euch das Angstgefühl IHRER Geschöpfe auf dem Planeten Erde wirklich klar wirklich verstehbar zu machen. Wir sind Geist, wir haben kein Fleisch, das mit der Vernichtung bedroht werden kann. Obendrein sind wir Wesen, an denen prallt die Wut des Lederflügligen wirkungslos ab. Am ehesten kennen wir Angst, und ihr werdet das noch verstehen lernen, wenn wir uns zu einem geschaffenen Wesen, einem Menschwesen beispielsweise, hingezogen fühlen und zusehen müssen, wie dies Wesen auf die schiefe Ebene gerät, an deren Ende grinsend der Lederflüglige wartet. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was Wesen empfinden, die aus Körper und Geist gefügt sind, Körper und Geist untrennbar ineinander verschränkt. Ich habe es ja schon anzudeuten versucht. Junge unter Strom. Ununterbrochen, seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, fühlte der Junge diesen bohrenden und alldurchseuchenden Schmerz in seinem Fleisch, der war Angst. Die Angst saß in der Brust, und besonders in den Schultern und Oberarmen, als knisternd britzelnde Elektrizität. Pressende, nimmer ruhende Gewalt. Die Angst war der Normalzustand des Jungen, sie war chronifiziert. Er begriff in seinem Alter immer weniger, wie er überlebt hatte. Die Angst nagte und fraß an ihm, ob er an ein angsterregendes Objekt, ein angsterregendes Wesen nun dachte oder nicht. Seine Panik vor der Mumie gab immerhin der Angst einen Fokus, ohne sie im leisesten zu mindern. Da draußen waren die Wesen, die aussahen wie Menschen, aber keine waren. Da draußen warteten die Teigfassaden, in deren Dahinter hinein der Junge angstvoll spähte, auf der Suche nach dem Menschen, der sich dort verbergen müsse. Wer ihn anglotzte durch die Sichtscheiben der Teigfassaden, muss ich euch nicht erklären. Der Junge sah den Blick und verstand ihn, noch bevor er ihn verstand. Seine Angst nahm ihm den Atem, wo er ging und stand, sie überfiel ihn in Wellen. Ihr müsst verstehen, seine Angst war nicht ein Zustand, der ihn überkam wie eine akute Krankheit, und danach war gut. Nichts war jemals gut. Niemals hörte die Angst auf, den Jungen zu peinigen, und die Pferdeschnauzige würde das noch ausnutzen bis auf den Grund, ich muss noch davon reden. Aber ihr müsst verstehen, ihr müsst im Auge behalten, viel habe ich euch schon berichtet von dem Jungen, aber stets müsst ihr euch zu allen Ereignissen zu allen Begebenheiten zu allen Fährnissen zu allen Begegnungen die Angst hinzudenken. Die Angst war allgegenwärtig in seinem Leben, sie färbte alle Gestaltungen. Der Junge begriff im Alter die innige Versenkung, die geradezu somnambule Selbsthypnose, in die er sich hineinlas bei der Lektüre der Enormen des Unnachahmlichen der Heftchen, begriff sie als Rettungstat, als Eröffnung von Räumen, da die Angst keinen Zutritt und keine Gewalt hatte. Er dachte, eigentlich könne er der Angst gerade so gut auch dankbar sein. Ohne die Angst hätte er vielleicht nie zu dieser Intensität des Lesens gefunden, die ihm Türöffner wurde. Portale öffneten sich hinaus in Räume, die würden nimmer sich verschließen, und der Junge sah Dinge, anderen Menschwesen verschlossen. Zuweilen dachte er, vielleicht war die Angst die Bedingung, dass ich dort hinauf sehen kann, über das undichte Dach des Menschlichen hinweg. Dass ich Zutritt habe zu der Säulenhalle und dem Allerheiligsten, darin die wohnt, die dort ausschenkt. Vielleicht ist es die Angst und allein die Angst, die mich so selig arm und nackt gemacht hat, dass ich vor ihr die Bettlerhände ausstrecken darf, vor ihr, die dort ausschenkt.
Denkt daran. Auch in jenem seligen Dreivierteljahr, jenem nimmer endenden Sommerabend, den er bei der alten Tante verbrachte in der verwegenen Hoffnung, es könne doch noch alles gut werden, verließ ihn nicht für eine Stunde die Angst. Angst, geboren aus der unabweisbaren Gewissheit, ich werde dennoch wieder ausgeliefert werden den Wesen, die aussehen wie Menschen, aber keine sind. Die mich vernichten wollen, die mich vernichten werden. Tante, liebe Tante. Zuweilen sah er an die alte Tante und dachte mit überwältigender Gewissheit, sie wird mir helfen, sie wird mich dennoch retten. Das war Illusion, aber keine Medizin ist dem Menschtier so wohltuend wie die Illusion. Die Illusion heilt nicht, aber sie erhebt das Menschtier, und bis in die Stunden seiner Tode hinein würde der Junge immer wieder Augenblicke des Aufschwungs haben, die ihn würden fühlen lassen, alles wird gut, das Wunder wird geschehen, Wandel wird werden, alles wird neu werden. Die Augenblicke hatten niemals Dauer, aber der Junge war ihnen dennoch dankbar, denn eine gewisse zarte Ausgespanntheit in der Zeit eignete ihnen ja doch, und solange sie währten, war überwältigender Glanz in der Welt.
Nachher dachte er, diese Augenblicke überwältigender Hoffnung, die waren das Eigentliche in meinem Leben, und sie haben mich nicht betrogen, denn sie waren Geschenk in sich.
Das Menschtier ist oft undankbar und mault, ich habe doch so gehofft, und nichts ist wirklich geworden – anstatt dankbar zu sein dafür, dass es hoffen durfte. Denn die Hoffnung, egal ob sie sich erfüllt oder nicht, ist als überwältigender Augenblick des Glücks dennoch wirklich, ist dennoch Geschenk, für das das Menschtier dankbar sein sollte. Über welchem Menschtier dunkel drückende Wolkengetümmel lasten, das erlebt die Augenblicke der Hoffnung als wildes Aufreißen der Himmelsjagd, und herein schießt ein gleißendes Licht, das ist wirklich. Das ist wirklich da, im Außerhalb, und scheint herein ins finstere Tal, so ist die Hoffnung dem Menschtier Bestätigung und Gewähr. Die Hoffnung ist Wert an sich, und so gewaltig ist der Wert, dass im Vergleich die Erfüllung nicht wirklich etwas bedeutet. In der Hoffnung steigt die Seele des Menschtiers hinauf in Regionen, die keine Erfüllung erreichen kann.
Er stolperte durch seine Elendsgelände, der Junge, hielt sich fest am weise bereiteten Leitseil der Tage. Die Angst war sein täglicher Begleiter. Da er älter wurde, vergaß er sie zuweilen, sie hielt sich dennoch fest, am Zipfel seines Mantels, und wenn er sein Zweirad durch die Wiesen pedalierte, saß sie hinten auf dem Gepäckträger. Aber war die Angst bei ihm, die Hoffnung war es erst recht. Hoffnung, nimmer müde. Nimmer hörte er auf, sich zu verlieben, zum Beispiel. Es ist nicht zu sagen, wie oft in seinen Leben er verliebt war.
Zum Schluss liebte er die eine, die er niemals gesehen hatte. Und verstand: So, du warst das also, immer. Du bist die, die ich immer geliebt habe, das habe ich nicht gewusst. Ich hätte es wissen können. Du, Liebe meines Lebens. Du, die ich niemals gekannt habe.
Adieu, adieu. Wir haben uns niemals erkannt, aber du sollst wissen, du bist, die ich immer geliebt habe. Niemals habe ich aufgehört, dich zu lieben.
Leb wohl, du warst aller Sinn meines Lebens, Geschenk meiner Tage, du hast mit Hoffnung gefärbt alle meine Stunden. Leb wohl.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)