Flussentlang

Der Fluss murmelte eine kleine Wegstrecke nordwärts, dann schwang er in weitem Bogen zurück nach Südwesten, der Stadt entgegen.

Die Weiden begleiteten ihn, der Weg begleitete ihn.

Eine Elster flog vor den Wagen her; immer wieder hielt sie Rast im niedrigen Geäst, äugte entgegen dem herannahenden Gerumpel, bis die Ochsenhörner sie fast berührten, da flatterte sie hurtig auf und unter Protest und zeterte ein weiteres Stück weghinunter, auf dass das Spiel sich wiederhole; denn es gefiel ihr.

In den Uferböschungen pickten die Bachstelzen.

Der Falbe des Maître drängte vorwärts; unbehaglich war ihm gewesen die Nacht in dem feuchten Stall Warlams, jetzt wollte er ausgreifen, doch der Maître musste ihn zügeln, die Ochsenkarren kamen nicht nach, auch war der Weg gefährlich, heillos überwachsen, Geschlinge von Gräsern und Weidenschösslingen und Binsen und was noch, manchmal war es, als führe man frei durchs Gelände, von geebneter Bahn war nicht zu reden, gerade noch standen die Bäume und Büsche weit genug auseinander, den Wagen Durchschlupf zu erlauben. Die Räder wühlten im weichen Erdgrund, gut, dass das Wetter noch trocken war, wenn es geregnet hätte, wäre hier kein Durchkommen gewesen.

„Dieser windige Vogel Warlam“, murmelte Roger, „er tut hier nie was …“

„Was denkst du von ihm?“ fragte Inge.

Roger zuckte die Achseln. „Es fehlt ihm an Ernst“, antwortete er.

„Irgendwie“, sagte Inge, „fand ich ihn ganz nett …“

Sie fuhren in der gewohnten Reihenfolge, Aslan und Magdalena mit dem ersten Wagen vorweg, und Roger und Inge folgten mit dem zweiten, und hinter dem Kutschbock thronte Grand Mère. Ganz vorne, vor Moses Maimons gereizten Nüstern, tänzelte und ruckte das Gespann des Maître, leicht und hochrädrig, und auf dem hinteren Sitz saßen Eluard und Waldemar.

Weich unter schweigend zogen die dicken Wolken über den Himmel, gesättigt die Bäuche von Grau und Wärme und milder Regenahnung. Und der Fluss widerspiegelte sie, schimmernde Flotte am Grund der Gewässer.

Eluard schaute schweigend. Da war auch ein Fluss gewesen, an dem Ort, da er so lange gewesen war und an den er sich so gut erinnern konnte, an dem Ort, da der Großvater Rabold lebte und Geschichten erzählte – da war auch ein Fluss gewesen. Man hatte ihn spazieren geführt, und die Sträucher standen regenbunt, wildes Wachstum kreuzüber, da waren weite blanke Pfützen am Boden, und er schaute hinein, und siehe, da gings ins Grenzenlose, spiegelte sich der ganze Himmel darin, mit den fernen, weichen Wolken, und er stand und starrte und fühlte den wilden Wunsch: fort, fort, dort hinein, in die Weite, in die Grenzenlosigkeit –

– so war der Tag auch heute, sanft und warm die Luft, unter grauem Wolkenzug, und seltsam, er war nicht traurig angerührt von der Erinnerung, nein, er fühlte sich eher getröstet: getröstet, dass die Tage überall wiederkehrten, dass dem Vorbei, der Endgültigkeit der Dinge Milderung wurde, dass die toten Zeiten wiederkehrten im Spiegel der Tage, unbestimmte Auferstehung feiernd. Im Spiegel der Tage … aber wenn die Tage nur Spiegel waren, wo war dann der Grund? Das Urbild? Er fühlte, dass er darüber nachdenken würde, eines Tages, das Rätsel bedrückte ihn, da war Angst, Schwindel, Unsicherheit, und keine Hand, an der er sich festhalten konnte. Er sah auf, betrachtete den schwarzen Rücken des Maître, dann blickte er sich um gegen den nachholpernden Wagen: fremde Leute … er würde freundlich sein zu ihnen, dann wären sie es auch, aber niemand, den er kannte, und Miriam …

Wieder presste ihn das hölzerne Gefühl in der Kehle, und er biss die Zähne zusammen und gab sich einen Ruck und dachte: ich tu einfach so, als wär das richtig so, wie es ist, und als wär ich schon immer hier, ich tu einfach so, ich tu einfach so; und wieder wurde er leer und hart, die Welt war öde, man sah sie an aus brennenden Augen.

In diesem Augenblick drehte sich der Maître um und warf einen prüfenden Blick auf die Kinder, er schaute Eluard ins Gesicht und wollte ihn freundlich fragen, ob es ihm gut gehe? – aber irgendetwas bestimmte ihn, es bleibenzulassen, und er wendete sich wieder dem Falben zu, und das war wohl gut so, denn Eluard hätte sonst begonnen zu weinen.

Waldemar saß neben ihm und war glücklich. Er durfte auf einem Pferdegespann fahren, einem richtigen Pferdegespann! Und er spähte immer wieder an dem Maître vorbei auf das helle Tier, das auf leichten Hufen vor den Wagen her tänzelte, es sah gar nicht aus, als müsse es sich irgend anstrengen, ganz mühelos zog es das Gefährt, warf sogar ungeduldig den Kopf, dass die lange Mähne flog … nie hatte Waldemar etwas Schöneres gesehen, und er saß da und platzte fast vor Stolz und schaute sich um, ob die da hinten, auf dem Ochsenkarren, auch wirklich sähen, wie er da so stolz und leicht durch die Welt fuhr, und er winkte mit kurzem Ärmchen, und Magdalena winkte zurück, und Aslan hob grüßend den Peitschenstiel.

„Gefällts dir?“ fragte Waldemar begeistert.

„Ja“, antwortete Eluard und lächelte höflich.

„Bist du schon einmal mit einem Pferd gefahren?“

„Hmm – ja“, antwortete Eluard, „einmal – das ist aber schon lange her, ich weiß es nicht mehr richtig …“

„Ich noch nie …“ sagte Waldemar in halb vorwurfsvollem Ton. Dann wandte er sich nach vorne und fragte: „Gehört das Pferd dir?“

„Wie?“ fragte der Maître. „Oh ja, es gehört mir, ein Geschenk meiner Kollegen, ja …“ Er brach ab und seufzte.

„Was hast du?“ fragte Waldemar unbefangen.

Der Maître lachte. „Ich hab nur daran gedacht, wie schön es jetzt zu Hause wäre, in Paris … ach, Paris …“

„Hast du eine Wohnung?“

„Aber natürlich, mein Kleiner“, antwortete der Maître stolz. „Ich habe sogar eine schöne Wohnung, mit vielen Zimmern und einem großen Kamin, damit ichs im Winter warm habe …“

„Und das Pferd?“ krähte Waldemar.

„Steht im Stall.“

„Und wenns kalt ist?“

„Wird auch im Stall der Ofen angezündet. Du bist aber neugierig, mein Kleiner … wenn ihr nach Paris kommt, sollt ihr mich besuchen, und dann kannst du alles sehen, und ich werde dir alles zeigen … und du natürlich auch, Eluard, das versteht sich … aber jetzt lasst mich in Frieden, ich muss auf den Weg achten, er ist so schlecht, ich habe Angst, dass das Tier fehltritt …“

Und der Maître blickte nach vorne und rief dem Falben beruhigende Worte zu, mit tiefer Stimme und langen Vokalen, wie man mit Pferden spricht … Kinder … seltsam, oft dachte er, es wäre schön, eine Frau und Kinder zu haben, eine Familie, dass er nicht allein schlafen müsse, und jemanden habe, dem er die Welt erklären könne, aber dann wurde er wieder so schnell ungeduldig, wenn er mit Kindern redete, obwohl er sie eigentlich gern hatte, sie waren unselbständig, man musste sich mit ihnen beschäftigen … die Welt erklären … versteh ichs denn selber? dachte er und lachte in sich hinein. Da sitzt der Maître Abelard, sprach er zu sich selber, auf seinem Wagen, und die Welt weht ihm um die Nase, haha … der Maître Abelard, von der Hohen Sorbonne … und er wurde wieder von Heimweh ergriffen und senkte den Kopf.

Der Fluss verbreiterte sich zwischen den Bäumen, mündete in einen ruhigen, spiegelnden Teich, und von ferne hörte man ein gemächliches Rauschen. Da musste eine Stauung sein, Warlam hatte nichts davon gesagt …

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)