… der Widerspruch übrigens zwischen dem lodernden Willen, die Gefühle des Jungen zu verletzen, und dem immer wieder kundgetanen Hohn, der hat ja gar keine Gefühle, der ist ja ein Klotz, ein stumpfes Mannschwein, der fühlt ja nichts, dieser Widerspruch war Grimmvettel und Pferdeschnauziger nicht etwa peinsam, sondern willkommen. Gerade das Sticheln, der hat ja keine Gefühle, hatte die Grundbestimmung, diese Gefühle besonders intensiv zu verletzen. Hätte der Junge auch nur im Geringsten seine verletzten Gefühle offenbar werden lassen, wäre gehöhnt worden: So eine Memme! so ein Waschlappen! fängt gleich an zu heulen!
Die Grimmvettel redete so zu ihm, redete so über ihn, die Goldene Tochter wusste sich blendend gerechtfertigt.
Sie waren umgeben von Männern, die das Sagen hatten über sie. Menschenlos. Das Menschtier ist immer umgeben von anderen Menschtieren, die das Sagen haben über sie. Da Grimmvettel und Pferdeschnauzige sich aber als grandios wussten, erregte das Sagen der Manntiere in ihnen blinde Wut. Die Mannschweine! Das ist alles nur, weil da überall diese Mannschweine sind! In Wahrheit sind doch wir die, die grandios sind, wir Frauen!
Immerhin hatten sie in der eigenen Familie ein Mannschwein, wenigstens ein einziges, an dem konnten sie sich schadlos halten. Der Junge. Über den Jungen hatten sie das Sagen. Der Junge war das eine Mannschwein, das konnten sie fertig machen. Sie taten es. Sie hatten keinerlei Inhibitionen. Keine Skrupel, kein Mitleid, keine Reue. Das ist ein Mannschwein, der verdient es nicht anders.
Der Junge, der die Frauen schon geliebt hatte, noch bevor er hatte überhaupt denken können, entwickelte Angst vor ihnen, Angst bis hin zur Panik. Schlechte Kombination, schlechte Konnotation. Vor Männern hatte er genauso viel Angst, aber die Männer liebte er nicht, so entwickelte sich aus der Angst nach und nach eine geruhige Abneigung, die ihn nicht weiter beschwerte. Aber er hörte zeitlebens nie auf, die Frauen zu lieben, und sich vor ihnen zu fürchten. Furcht, die war echte und unvermischte Hexenfurcht. Er wusste, wozu diese Wesen imstande sind. Er kannte ihre Reuelosigkeit, er kannte ihre moralische Verwahrlosung, ihre groteske Selbstgerechtigkeit. In seinem Alter schrie es von allen Dächern, Frau hat recht, Mann ist schuld. Das war der Kampfschrei der antimodernen Revolte, die Frauen hörten und glaubten, die Zahl der zerbrochenen Beziehungen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Frau hat recht, Mann ist schuld. Die Taschen arbeiteten daran, alle Ordnungsnormen, alle Politik, alle Gesetzgebung diesem einfachen Grundsatz zu unterwerfen. Frau hat recht, Mann ist schuld, was gibt es da noch zu fragen. Und der Junge hörte die Schreie und wusste, überdrüssig, das ist mir schon klargemacht worden, da wart ihr noch gar nicht geboren.
Ihr versteht auch hier wieder das Prinzip. Was in der Kindheit des Jungen nur individuelle Aberration war, wurde in seinem Alter zum öffentlichkeitsformenden Grundsatz. Von draußen gesehen, von ganz weit draußen, waren Pferdeschnauzige und Grimmvettel übergeschnappte Drachen, über die die meisten Menschen lachten, und denen die alte Tante sich unterwarf, statt sie in ihre Schranken zu weisen. Im Alter des Jungen lachte niemand mehr, er selber hatte schon als Kind nicht gelacht. Ob ein Verhalten unter den Menschtieren als Wahn gilt oder als Norm, das bestimmt die Zeit, unter den Menschtieren. IHRE Stimme sagt etwas ganz anderes. Ob der Grundsatz, Frau hat recht, Mann ist schuld, nur von ein paar abgefahrenen Hyänen in der Echoglocke ihrer Wahnzimmer posaunt wird, oder ob alle Gelände ganzer Kontinente davon widerhallen, macht überhaupt keinen Unterschied. IHRE Gebote führen weltenweit fort von solchen Erhysterungen. Folge MEINER Stimme, sagt SIE zu dem Menschtier, dann musst du dir über dein Rechthaben keine Gedanken mehr machen, und ob einer schuld ist, das weiß er selber als erster.
Welch Menschtier auf IHRE Stimme hört, interessiert sich gar nicht mehr dafür, ob es recht hat oder nicht, es weiß, es kann nicht anders. Welch Menschtier SIE fühlt in der Berge seines Herzens, ist alles Rechthabens selig enthoben, es hat keine Wahl mehr und will auch keine.
Der Junge war noch klein, da die spuckenden Frauen die prügelnden Männer über ihn kamen. Der Junge war noch nicht geboren, da hatten die spuckenden Frauen die prügelnden Männer schon auf ihn gewartet, sie waren schon da. Er war ein Kind, er war ein Säugling in der Wiege, er war wehrlos, sein lebendes Fleisch entwickelte das Gefühl aller Kreatur, ausgeliefert übermächtiger Gewalt: Angst.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)