Die Abschiede sind die Mühsal der Welt, die Last der Tage. Eine seidene Kette bilden sie, jede Stunde sagt: ade, ade, ganz leise, und dann kommt eine Minute, eine einzige, und gewandelt wird das Flüstern in Geschrei, die Seide in Eisen, dass die Kette schwer wird und die Glieder lähmt …
„Du wirst es gut haben, Eluard“, sagte Miriam, und Gabriele saß dabei und schaute.
„Ja“, sagte Eluard.
Miriam suchte seinen Besitz zusammen, die wenige Habe, Kleidung, Spielzeug, es war nicht viel, und doch brauchte sie lang, sie suchte und fand, fand und suchte, zerstreute alles wieder, ordnete mit fahrigen Händen. Das Tuch aus grobem Leinen, ein Bündel daraus zu schnüren, der Weidenkorb, den schenkte sie ihm.
Gabriele saß, sie war beunruhigt, warf verstohlene Blicke ins Gesicht ihrer Schwester, sie hätte gern geholfen, aber sie hielt sich zurück, es war wohl besser so.
Kleider, Hemden, Hosen, Wäsche. Es war eine weite Reise, die der kleine Eluard da vorhatte, alles musste verpackt werden, mit Sorgfalt und an rechtem Ort, Miriam faltete Leinen und Wolle, überlegte es sich anders, breitete alles wieder aus, schaute erwägend, sie wurde nicht fertig. Blass war sie wie immer, sorgenvoll, vielleicht die Falten in ihrem Gesicht ausgeprägter als sonst? Sie hatte nicht die glückliche Natur Erlandas, Warlams Mutter, die sich dick und rund in jeden Fortgang hineinsetzte und durch bloße Fülle den Fortgang zum Stehen brachte; sie war schon gar nicht wie der Mann Warlam, schnell und vogelflink und haltlos, groß im Projektemachen, kam ein Fehlschlag, wusste er schon was Besseres, viel Besseres; nein, sie war einfach wie Gabriele, ein Dorfkind, geschaffen für den Acker und die Wohnungen, und übel war ihr Los am Fluss Warlams, immer schon, dann war noch Gudrun gekommen, das Tierchen Gudrun mit den schweren Brüsten und den gesunden Schultern, die konnten alles tragen, und irgendwann würden die runden, willigen Hüften ein Kind tragen, das war sicher, es konnte nicht anders sein … über Miriams Gesicht fingerte die Blässe der Schlaflosigkeit, so viele Nächte, allein im klammen Bett in der feuchten Kammer, indes das trunkene Schiff durch die Nacht torkelte, und in einer anderen Kammer waren Geräusche, Geräusche …
Sie zupfte fahrig immer noch an demselben Hemd, mit leeren Augen, bei Vautrin, wer das Leben ertrag.
Eluard stand vor dem Bett, auf dem sie seine Habseligkeiten ausgebreitet hatte, und schaute ihr zu. Er war auch unausgeschlafen, hätte sich gerne hingesetzt, aber das mochte er doch nicht tun, es hätte so unhöflich ausgesehen, als ob er sie für sich arbeiten ließe.
Draußen auf dem Hof war Stimmengewirr, die Kaufleute hatten die Ochsen angeschirrt und die Wagen vor das Haus gefahren, Warlam und Erlanda schienen den Weg zu erklären, dazwischen tönte die Stimme des Maître, Rückfragen haltend. Wie war der Morgen grau! Die Wolken hingen tief, das Licht war blass.
Fortziehen also. Weiterziehen. Leer die Welt, leer und unvertraut. Und so müde der Kopf, müde zum Hinlegen, aber gerade Hinlegen, das sollte ja nicht sein …
„Es gibt sicher Regen …“ fing Gabriele an, und Miriam unterbrach das Zupfen und Nesteln und schaute hinaus, „ja“, sagte sie, „Vautrin wird Regen geben, gerade heute wollte ich doch waschen …“
Sie schaute Eluard an. „Siehst du“, sagte sie, „ich werd unten am Fluss sein, in der Bucht, und waschen, und da wirst du schon weit fort sein … und ich werd mir denken, wo er jetzt wohl ist?“
Eluard sah sie an, er hätte gern etwas gesagt, aber er wusste nicht, was, er sah sie an und stellte es sich vor, wie sie da unten in der Bucht am Fluss hockte und die Wäsche wusch, und er würde nicht dabei sein, nicht am Ufer sitzen und zuschauen oder auch im Wasser waten, die Flusskiesel betrachtend unter der sachten Strömung …
Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, dann fiel ihm der dicke Krebs ein, der mit den winkenden Scheren, der an einer geschützten Stelle der Uferböschung wohnte, unter einem schweren Stein, und der sich gar nicht zu ärgern schien, wenn man den Stein weghob, um ihm ein bisschen beim Leben zuzuschauen; und er machte den Mund wieder zu, ohne etwas gesagt zu haben.
Gabriele schien einen Entschluss gefasst zu haben. „Weißt du was“, sagte sie zu ihrer Schwester, „wenn der erste Schnee fällt, dann kommst du uns besuchen …“ Miriam wollte sie unterbrechen, aber Gabriele wiederholte in feststellendem Ton: „… dann kommst du uns besuchen, Warlam wird ganz gut eine Zeit ohne dich auskommen. Denk doch nur, wie schön wir es haben können! Und Reinhard wird sich freuen, du weißt, gern nimmt er dich auf, gastfreundlich ist sein Herz, und was eine Freude ist für mich, das billigt auch er.“
Miriam bewegte unschlüssig den Kopf, es konnte ebenso gut ein Nicken bedeuten wie ein Kopfschütteln, und dann schienen sich ihre Augen zu röten …
„Soll ich mal mit Warlam reden?“ fragte Gabriele leise. Warlam würde sie zurückbegleiten, zurück in Reinhards Dorf, des morgenden Tages, zu Fuß würden sie gehen müssen, aber das war kein Unglück, es gab einen Pfad, eine Abkürzung, für Wagen nicht zu befahren, die würden sie nehmen.
Miriam schüttelte hastig den Kopf und presste die Lippen zusammen, und Gabriele senkte den Blick. „Nein“, murmelte sie unhörbar.
Eluard war unglücklich und unruhig, er verstand nicht, worüber die beiden Frauen redeten, gleich allen Kindern fühlte er einen instinktiven Abscheu vor Gefühlsausbrüchen Erwachsener, die wurden so peinlich, so gewalttätig … arme Miriam.
Er blickte hinaus und sah, dass die Kaufleute fast aufbruchsbereit sein mussten, sie standen auf dem sumpfigen Hof, umpickt von den schmuddeligen Hühnern, und besprachen sich, der Maître führte das Wort, er schien etwas zu erklären, eindringlich, wiederholend, einschärfend. Der Maître … so also sollte sein Vater ausgesehen haben? Ernst war er und abstandhaltend, und manchmal, wenn er zuhörte, sah er den Menschen auf eine suchende Art ins Gesicht, als verstünde er sie nicht, das machte ihn irgendwie rührend, soweit das bei dem ernsten Manne möglich war.
Eluard wandte sich wieder dem Bett zu und Miriam, die jetzt zögernd das Bündel schnürte. Wie kahl war das Zimmer mit einem Male! Gestern war es noch warm und voll gewesen, vertraut die Ecken, die schadhaften Möbel, die Stockflecken an den Wänden, jetzt lag der graue Morgen darin, bleiern, öde, erzählend von Verlassenheiten.
„Wenn ich groß bin“, sagte Eluard, „dann komm ich und besuch dich.“
„Ach“, sagte Miriam und weinte, „wer weiß, ob ich dann überhaupt noch lebe …“
Eluard ging um das Bett herum, und Miriam schloss ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Pass gut auf dich auf, mein lieber Junge“, flüsterte sie, „und vergiss mich nicht … wirst du ab und zu an mich denken?“
„Ja“, sagte Eluard, „ganz bestimmt.“
„Ich an dich auch“, wisperte Miriam, „ich werde dich nie vergessen … mein Junge …“
Und Eluard fühlte seine Augen brennen, der Kopf tat ihm weh, aber er gab nicht nach, er schluckte es hinunter, er würde es nie zeigen, nie, nie, das würde ja doch nichts ändern, alles geschah, wie es geschah, und er konnte nichts ändern, nichts beeinflussen. Und er wurde leer und hart, mit schmerzendem Kopf.
„Sie warten schon draußen“, sagte er gepresst, und seine Kehle war wund.
„Ja“, sagte Miriam mutlos, „wir müssen wohl hinausgehen.“
Sie nahm das kleine Bündel und den Korb, und Eluard hielt sich an ihrer Hand fest, und sie traten in den muffigen Korridor und hinaus auf den Hof, Gabriele hinterdrein.
Waldemar kam ihnen entgegengelaufen. „Denk dir“, sagte er aufgeregt zu Eluard, „wir dürfen ein Stück mit dem Maître fahren, auf seinem Wagen, mit dem Pferd … freust du dich?“
„Ja“, sagte Eluard, höflich.
Die Kaufleute schauten, als sie kamen, und Magdalena trat zu ihnen: „Wir müssen jetzt los, wir haben einen weiten Weg heute …“ Dann sah sie, wie es um Miriam stand, und sie fügte hinzu: „Wir werden gut auf den kleinen Jungen achtgeben, du weißt es, er wird es gut bei uns haben, wie bei seinen eigenen Eltern.“
Der Maître fügte hinzu: „Du kannst es glauben, Schwester Miriam, kannst beruhigt sein, es sind ja gute Leute, sie werden das Kind pflegen und hüten … in Paris werden wir uns vielleicht sogar treffen, so Vautrin will, wir haben uns verabredet …“
Miriam nickte. Ach, das alles machte es nicht leichter, aber was sollte sie sagen?
Und Eluard verabschiedete sich von Warlams Familie, und Gabriele verabschiedete sich von den Kaufleuten. Es war ein großes Gedränge und Durcheinander und Händeschütteln, all die verzerrten Zurufe und guten Wünsche …
Eluard gab der dicken Erlanda einen Kuss, die sich gerührt und schnaufend zu ihm niederbeugte und ihn umarmte, dass er in den Fettmassen fast verschwand, und Gudrun, das Tierchen, weinte, weil der blonde Junge so hübsch gewesen war, und nun ging er fort, einfach fort, sie hatte ein gutes Herz, und sie küsste und streichelte ihn, und dann sagte sie: „Einmal werde ich selber einen kleinen Jungen haben, so wie dich, ganz bestimmt, und dann soll er aussehen wie du“, und Warlam, der haltlose, selbstsüchtige Mann, war peinlich berührt, dass sie das so unbefangen aussprach, dumme Kuh, murmelte er, fast so, dass mans hören konnte, und dann verabschiedete er sich von Eluard, nur knapp, er war froh, dass der Junge weiterkam, die Sorge war er los, er wollte noch etwas sagen, etwas Würdiges, er stellte sich in Positur, denk immer an deine Wohltäter, wollte er sagen, aber da merkte er, dass der Maître ihn scharf ansah, mit unguten Augen, und er klappte den Mund zu, und das war es dann.
Gabriele weinte auch, ach, es hatte ihr so gut gefallen bei den Kaufleuten, auf den Wagen, so aufregend war das gewesen, sie würde lange davon zu erzählen haben, wenn sie wieder daheim war, in Reinhards Dorf, und sie umarmte und küsste alle, Aslan schenkte ihr eine bronzene Kleiderspange zur Erinnerung, es tat ihm auch ein bisschen leid, dass er zum Schluss so kurz angebunden gewesen war, so war es immer, er konnte es halt nicht vertragen, wenn Fremde mit auf den Wagen fuhren …
Und endlich saßen alle auf, Waldemar und Eluard wurden auf den hinteren Sitz des Einspänners gehoben, der Maître schnalzte mit der Zunge, und das Pferd, das helle Tier, trabte los, die beiden Jungen hoben ihre Kinderarme und winkten, hinten winkten sie zurück, Waldemar sah noch einmal mit verwunderten Augen Gudrun an, das Tierchen, er fühlte, dass er sie mitnahm, irgendwie, und dann schoben sich die anruckenden Ochsengespanne dazwischen, das Weidendickicht schloss sich um den Weg, und das trunkene Schiff verschwand, dort hinten am Fluss.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 09.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)