Heftchen

Am Abend übte er sich in seinen Ritualen der Furcht, deren Sinn er genauso wenig verstand, er dunkelte hinein in die Mumienbotschaften, aber mit der Mumie blieb er nicht allein, oder die Mumie nicht mit ihm. Wie ich schon sagte, er fand in der wenig entfernten Wäscherei das Regal mit der zusammengewürfelten Leibücherei, und darin die Wunder der Schundromane. Schundromane, das waren die, vor denen er gewarnt worden war, wie hüpfte erst sein Herz, als er ganze Stapel der verworfenen Heftromane entdeckte, deren bunte Titelblätter er in den Auslagen der Kioske sehnsüchtig beäugt hatte. Hier lagen sie. Hier warteten sie auf ihn, nimm mich mit, sagten sie. Er lieh aus, was er nur bezahlen konnte, die andere Großmutter, die er mochte, aber nicht besonders, die steckte ihm ja immer ein bisschen Geld zu, sparsam bemessen, aber ihm war jede Spende willkommen, und auf den Flügeln unerhörter Gefährlichkeit reiste er hinaus in die Weiten eines Alls, dahin das Menschtier eben erst die frühesten Raketen gejagt hatte, das Luftreich des Planeten mit knapper Not verlassend. Die Phantasie der Heftchenautoren jedoch kannte keine Schranken noch Fesseln irdischer Bindung, öfter taumelten sie hinaus in Welten, da wohnten die Finsternisse, die besiegten die Helden immer, nicht ohne zuvor dem Grauen mannhaft ins Antlitz geschaut zu haben. Das tat auch der Junge, jedoch mit schlotterndem Hosenbein. In der Tat, er machte sich schier ein bei der abendlichen Lektüre, die von außerweltlichen Ungeheuern so beiläufig sprach wie von Gestaltwandlern und den Wesen, die von Weitem wie Menschen aussahen, aber keine waren. Das kannte der Junge, solchen Wesen begegnete er täglich, und in ihm waren Schreie der Erleichterung, dass von solchen Gestalten nun endlich und wahrhaft erzählt wurde. Er wusste doch, die Unwesen waren überall, warum wurde von ihnen und ihrer Beschaffenheit nicht geredet? Die Heftchen redeten, die Heftchen redeten Wahrheit, sie sahen dem Grauen ins Antlitz. Die Schundschmöker handelten nicht nur von der „Welt von Morgen“ (so die Handelsmarke der Schundverleger), sondern auch von dem nackten Grauen einbrechend in die irdische Täglichkeit, aus ihren Gräbern erstanden die Toten, und ihnen war gar nicht freundschaftlich zumute, und im Wüstensand fanden gehrockgewandete Forscher eine Mumie, die nahmen sie mit sich nach Hause, auf die Insel in der silbernen See, und dort erwachte die zum Leben, oder wenigstens zu Beweglichkeit, ihr mögt ermessen, wie dem Jungen das Herz hüpfte, als er lesen durfte, was er doch schon immer gewusst hatte, die Mumie lebte, sie kam in die Zimmer. Zur Nacht fraß er dann vor Angst das Bettlaken, am Tage grauste er sich so, dass er die schlimmen Bücher kaum anzusehen, geschweige denn anzufassen wagte, aber lesen musste er sie, mit quellenden Augen. Was er sah an den Nachmittagen, da er hinaus ging in die Stadt, auf seinen hastigen Wanderungen, das bestätigte die Lektüre, sie waren zugange, die Unwesen, er begegnete ihnen überall, aber auf der Straße hatte er weniger Angst vor ihnen als in der Stille des tantenverlassenen Zimmers.

Es waren zu seiner Zeit nur die Heftchenromane, die von der Wirklichkeit des Außerhalb redeten, die religiöse Wende war noch fern, aber selbst die Bewohner der Zeit nach der religiösen Wende trauten sich nicht, gewisse Wahrheiten einfach anzusprechen, von der Müllverklappung mochten auch sie nicht reden, während die Heftchenautoren doch munter von Telepathie und Gedankenbeeinflussung schwadronierten, gar von fremden Einsitzern in maschinenhaft funktionierenden und gehorchenden Menschmaschinen, ganz wie der Junge es kannte aus der Täglichkeit, oder wenigstens ahnte, es war seine zähneklappernde Furcht, die ihm bestätigte in frommem Entsetzen, hier wird Wahrheit gesprochen.

Die Heftchenautoren hatten ganz ernsthaft die Absicht, ihren Lesern vor Angst die Scheiße aus den Gedärmen zu treiben, konnten sich aber mit solchem Vorsatz nur deshalb auf dem Markt tummeln, weil sie Anwert damit fanden, bei einer Leserschaft nämlich, die nach Millionen zählte. Die antimoderne Revolte suchte allenthalben die einfachsten Wahrheiten zu unterdrücken, sie versicherte landauf landab, das Böse, das gibt’s doch gar nicht, haha-hahaha, hat die Wissenschaft jetzt rausgekriegt, das Böse, das sind einfach die Klassenfeinde die Rassenfeinde die Männer was immer, die Heftchenautoren und ihre Leser wussten es besser, das Böse lebt und ist wohlauf. Das Böse ist überall, es regiert die Wesen, die aussehen wie Menschen, aber keine sind. Der Junge war nicht der einzige, der sich danach sehnte, von der Wahrheit verängstigt zu werden, Leser gab es auf allen Kontinenten, und was die Heftchenautoren bedienten, das war ein ernsthaftes Begehr. Die Leser wollten verängstigt werden, weil sie die Wahrheit gesagt bekommen wollten, die sie auf der Straße und in den Werkshallen sahen und nicht sehen durften. Haltet euch vor Augen, dies war eine Welt, in der menschähnliche Wesen wirkliche Menschwesen zu Millionen in Gaskammern getrieben hatten, um sie dort millionenfach in industriellem Umlageverfahren zu ermorden. Die Mörder kamen dann heim, nahmen ihr gewohntes Gewerbe wieder auf und engagierten sich in ihrer Freizeit im Kampf gegen das Schundunwesen. Es gab sogar Bücherverbrennungen, da wurden Heftchen den Flammen überantwortet. Die Halbwesen erregten sich über Heftchenromane, in denen die Wahrheit über die Halbwesen ausgesprochen wurde. Man darf vermuten, was die Wut der Halbwesen so erregte, war nicht unbedingt, dass da Wahrheit ausgesprochen wurde, sondern dass die Heftchen so millionenfach nachgefragt und wohlfeil an den Kiosken angeboten wurden. Die gleiche Wahrheit, in esoterischen Zirkeln und in entlegenen Buchhandlungen angeboten, hätte wahrscheinlich weniger Aufsehen erregt. Aber millionenfach verbreitete Lektüre, die ganz unbefangen und wahrheitsgemäß von Blutsaugern und wandelnden Mumien redete, die musste bekämpft werden. Die Massen, die durch die Gassen schoben, liebten die Schundliteratur, ich sagte ja schon, diese Popliteratur war die eigentliche Literatur des Zeitalters, eine andere gab es nicht, und was in den Feuilletonspalten als Literatur ausgelobt wurde, war der Schwindel, der vertuschen sollte, dass es da draußen sehr wohl eine Literatur gab, nämlich die Heftchen. Bereits im Alter des Jungen würde die Wirklichkeit sich nicht mehr unterdrücken lassen, die Popliteratur würde Buchformat gewinnen, oder in den elektronischen Spielzeugen sich tummeln, nur die Academia würde, in alsbald nur noch possierlicher Verblendung, an dem Selbstbetrug einer Hochliteratur festhalten, die die eigentliche Literatur sei, während sich in Wahrheit dieser Literatur nur die Literaten widmeten, die nicht schreiben konnten, was sie den Feuilletonschreibern angenehm machte.

Von alledem konnte der Junge nichts wissen in dem Zimmerchen, es wäre ihm auch egal gewesen. Die Grimmvettel, ihn widerwillig aber pflichtgemäß versorgend – zu essen bekam er immerhin – entdeckte die verwerfliche Literatur im Zimmer der Tante und schrie und spuckte, in unverhohlenem Triumph: Beweis! Beweis! der unreife Bengel! unreif der! einfach unreif! Wie die Pferdeschnauzige hatte sie weder die leiseste Ahnung, was in der Heftchenliteratur, noch was in der feuilletongelobten Hochliteratur stand, nur dass man letztere selbstverständlich gelesen zu haben habe, das wussten beide, und wann immer die Rede kam auf einen Titel auf einen Autor der gelobten Hochliteratur, wussten Grimmvettel wie Pferdeschnauzige, Ganzstiefelvieh natürlich erst recht, kennich, kennichdochlängs. Happichgelesn. Da sie, wie alle Hochstapler, groß waren im hundeflinken Aufschnappen von Namen, kamen sie in praktisch aller Gesellschaft als gebildete Menschen problemlos durch, und der Junge fragte sich manchmal, wer in diesem Hochstaplerland überhaupt jemals einen der Titel, die sie alle gelesen hatten, tatsächlich gelesen hatte. Er selber hielt, was Literatur anbelangte, streng auf Autopsie, und von daher wusste er unverbrüchlich, dass zum Beispiel auch der Unnachahmliche in seinen Romanen ohne Unterlass redete von den Wesen, die wie Menschen aussehen, aber keine sind, und dass auch die Symphonien des Hofoperndirektors von ähnlichen Halbgestalten heimgesucht wurden. Dass der Geruch der Verwesung in der Welt war, war schließlich nicht die Schuld der Heftchenautoren, sie schilderten ihn nur mit großer Einlässlichkeit, in der Feuilletonwelt der eingebildeten Hochliteratur jedoch wurden die Texte von eben jenen Halbwesen produziert, die die Heftchenautoren so anschaulich zu malen verstanden, und von den Halbwesen in den Redaktionsstuben in den Rang wirklicher, in den Rang einzig wahrer  Literatur hinaufgelogen, im Umgang mit der eigentlichen, nämlich der Popliteratur, suchte man durch Display ironisch-überlegener Herablassung das Gesicht zu wahren, aber welchen Anblick bietet ein Lemurenwesen, das ein Gesicht zu wahren versucht, das es gar nicht hat?

Der Junge, unermüdlicher Bibliotheksgänger, kannte die Literaturprodukte der selbsternannten Hochliteratur, ihr gemeinsames Merkmal war eine unbeschreiblich kloe Kälte, sie rochen alle nach unbeheiztem Urinal, der Geruch wolkte dem Leser entgegen, noch bevor er das Buch aufschlug, es war die Fäkalkälte entschlossener moralischer Verwahrlosung. Wie jedes lebendige Menschwesen entsetzte sich der Junge vor diesem Geruch, lange bevor er sich das Um und Auf dieses Entsetzens begrifflich auseinanderzulegen vermochte. Der gleiche kalte Pissgeruch quoll ihm entgegen aus dem Mundgeruch der Überzeugerschnauzen, die auf ihn wie auf jeden anderen eindrangen in dem Bestreben, ihm die selbsternannte Hochliteratur als die einzig wahre Literatur aufzureden, die Propagandisten waren kenntlich am Geruch.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 08.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)