Er pflog intimen Umgang in dieser Zeit mit der Mumie, ich erzählte das schon, aber da gab es noch andere Behelfsbrücken hinüber in die Unendlichkeit. Bevor er aufgebrochen war in das leere Zimmer, die Tante „in Kur“, war er in der Industriestadt noch einmal in der Bibliothek gewesen, ah, jetzt hab ich einen Anhaltspunkt für euch, wann dies alles geschehen war, es hatte sich abgespielt nach dem Abgang des Ganzstiefelviehs und nach dieser Sache mit der Fetten und ihrem Hackebeil, aber noch vor dem Umzug in die neue alte Stadt, also während der Zeit des Eisesschweigens, ihr habt aber nun wohl verstanden, dass es in diesen Dingen auf die Chronologie nur ungefähr ankommt, denn all diese Begebnisse und Umstände, erst einmal etabliert in der Zeit, sinken alsogleich ins Ein für Allemal, ein Ereignis, einmal stattgehabt, wird teilhaftig einer kurzen Unsterblichkeit, denn sein Dasein währt bis zum Jüngsten Tag, nicht darüber hinaus. Was immer geschieht auf dem Planeten Erde, hat seinen genauen Ort des Eintritts in die Zeit, aber ist es einmal dort, ist es Vorhandenheit für alle Zeit bis zum Ende der Zeit. Das Menschtier ist also gewissermaßen Inhaber aller Ereignisse, die sich in seinem Leben zugetragen haben, so aber, dass alle Ereignisse bei ihm sind zu jeder Zeit, sich mehrend zu jeder Stunde. Welches Ereignis der Vergangenheit nun dem Menschtier wichtig ist zu diesem oder zu jenem Tag, welches ihm vor Augen steht mit brennender Gewalt, das ändert sich von Augenblick zu Augenblick, so könnt ihr also auffädeln die Ereignisse am Zeitpfeil, aber ihr könnt nicht verhindern, dass im Schwarm sie folgen ihrem Menschtier durch die Zeit, und gegenwärtig sind in jeder Gegenwart. Geboren in der Vergangenheit, sind sie doch in jedem Augenblick Bewohner der Gegenwart, und es macht wenig Sinn, ihnen anbefehlen zu wollen, sie sollten sich aufstellen in genau der Reihenfolge ihres Eintritts in die Zeit, sie werden das nicht tun, und das Menschtier findet sich heimgesucht oder erfreut von Ereignissen, die fanden statt sonst wann, und die Erinnerung verortet bestenfalls das Ungefähr.
Wie jedes Menschtier, hatte auch der Junge beim Rückblick auf sein Leben oft erhebliche Mühe, auf die fruchtlose Frage, ja, aber wann war das eigentlich?, Antwort zu finden. Nicht, dass ein Ereignis einmal war, ist von Bedeutung im Leben eines Menschtiers, sondern dass es, einmal geworden, für immer jetzt ist. So setzte ein jedes Ereignis im Leben des Jungen seine währende Dauer in der Zeit, und er, der Junge, war in jedem Augenblick all diese Gestalten, die er einmal, zu ihrer Zeit, geworden war, nachdem es die Gestalten vorher, nämlich vor ihrem Eintritt in die Zeit, nicht gegeben hatte, höchstens in IHRER Absicht, aber die offenbart sich dem Menschtier ja erst, nachdem sie verwirklicht wurde.
So war der Junge, in seinem Alter, auch der Junge, der in dem Zimmerchen auf die alte Tante wartete, und war auch der Junge, stehend erzitternd im gleichen Bus wie die Sylphide, er war zu jeder Zeit der Junge, zu Boden gehend unter den Dreschungen der Pferdeschnauzigen, er war der Junge, begegnend hinter sich öffnenden Buchdeckeln den Enormen, bevor der Zug entgleiste, er war der Junge, sitzend zu Füßen des Mädchens, er war er war er war, er war alles zur gleichen Zeit, was er doch geworden war einer Reihe nach, derer er sich hernach nur ungenau entsinnen konnte. Und all die Gestalten, die er war gleichzeitig, die waren geformt wie Säulen, wie glänzende metallische Zylinder, zwischen denen gab es Winkelwege zu ebener Erde und gewölbte Brücken auf halber Höhe, vielfältig, über die konnte man von einer Gestalt in die andere gelangen, ohne die geringste Rücksicht auf die Chronologie, der Junge musste sich nur hinsetzen und sich seiner schwimmenden Erinnerung überlassen, schon glitt er von einer Gestalt zur nächsten, wie es sich ergab, denn er war ja alle gleichzeitig.
So geschieht dies im Prinzip allen Menschwesen, doch die meisten sind kurz und dumpf und leben ganz im Turm ihrer Gegenwart, den zu verlassen sie keine Veranlassung sehen, sie haben deshalb kein schlechteres Leben. Der Junge dachte oft, dass die wandelnde Gegenwärtigkeit all seiner Vergangenheiten dann goldener Glanz wäre, wären diese Vergangenheiten geschmiedet gewesen aus Glück. Waren sie aber nicht. Ich bin verflucht, täglich durch tausend Höllen zu gehen, dachte der Junge, nicht nur durch meine Gegenwart, sondern durch alle Schlünde und Abgründe meiner Vergangenheiten ebenso, Tag und Nacht. Das ist mein mitgeborenes Schicksal, wie sollte ich da entkommen können, doch darf ich stündlich beten zu IHR, dies von mir zu nehmen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.02.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)