Die Artefakte sind das Ungeheuernis in unserer Welt. Das Unbegreifliche, das Unbegriffene, das niemals zu Begreifende. Sie sind der Grund unseres Staunens, und die Quelle unserer Zuversicht.
Die Musik die Bilder die Worte. All die Nutzlosigkeiten, die dem Nützlichen erst den Sinn geben. Farbe und Glück.
Nehmen wir mal ein Beispiel, das ihr alle kennt. Shakespeare. Ihr könnt auch die Songs der geschwinden Schneiderin nehmen, ganz egal. Oder die Symphonien Gustav Mahlers. Oder die Romane von Charles Dickens. Oder die Bilder von Edward Hopper. Nehmt was ihr wollt, und jeder will ja etwas anderes. Und jeder darf auch etwas anderes wollen. Jeder muss auch etwas anderes wollen.
Wir wissen nichts von der Zukunft, und das ist unser Glück. Die Zukunft ist immer offen. Doch, eine Sache wissen wir von der Zukunft: die Artefakte werden da sein. Die Enkel werden hochgekeucht kommen ihren Hang der Zeit, und wenn sie ankommen oben auf der Lehne des Plateaus, wer wird schon da sein? Shakespeare wird schon da sein. Und er wird nicht nur da sein. Shakespeares Werke werden den Wanderern des Jahres 2200 etwas sagen über ihre Welt, sie werden ihnen die Welt erklären. Unbegreiflich. Hinreißend. Shakespeare redet zu uns, den Bewohnern des Jahres 2022. Wie geht das zu? Shakespeare konnte nichts wissen von PCs und elektrischer Beleuchtung und Demokratie und Sozialstaat und all dem anderen. Dennoch redet er zu uns und erklärt uns unsere Welt. Er wird auch zu den Enkeln reden.
Wären die Artefakte nur Zeugnis ihrer Zeit, sie würden vergehen mit der Zeit. Tun sie nicht. Die Artefakte treten zwar irgendwann einmal ein in die Zeit, und das muss so sein, denn wir alle sind zeitliche Wesen, aber sie kommen nicht aus der Zeit. Sie kommen aus dem Oberhalb, sie sickern ein durch das undichte Dach des Menschlichen, aus dem Reich des Möglichen, sie sind vor aller Wirklichkeit. Sie tragen deshalb das Gepräge der Zeit, da sie in unsere Welt traten, sind aber nicht an sie gebunden. Sie kommen alle aus dem Außerhalb.
Beweis: nehmen wir einmal an, wir wüssten alles über die Zeit Shakespeares, alles und noch viel mehr. Es gäbe so viele Zeugnisse über die Zeit, dass wir jeden Tag rekonstruieren könnten. Könnten wir deshalb aus unseren Kenntnissen die Werke Shakespeares ableiten? Mit Notwendigkeit? So dass wir ein paar Zeilen aus „Hamlet“ zitieren könnten und zeigen, das musste so kommen das musste so geschrieben werden? Keine Chance.
Jetzt aber umgekehrt: nehmt an, alle Zeugnisse über die elisabethanische Zeit wären verloren, die Insel untergegangen, alle Erinnerungen ausgelöscht, und das einzige, was geblieben wäre, das wären die Werke Shakespeares. Ah! Aber dann hätten wir was. Aus den Werken Shakespeares könnten wir so einigermaßen die ganze untergegangene Welt rekonstruieren, nicht in den Einzelheiten, aber doch in den groben Zügen, und einigermaßen richtig.
Wir können niemals aus der Wirklichkeit die Artefakte rekonstruieren. Aber wir können aus den Artefakten die Wirklichkeit ableiten. Die Artefakte kommen vor aller Wirklichkeit. Die Artefakte sind aller Wirklichkeit vorgeordnet. Würde unsere Zivilisation untergehen, würde sie untergehen, die schöne Welt, und nichts übrigbleiben von ihr als die Songs von Taylor Swift, die Nachlebenden wüssten dennoch einiges über uns. Wäre es umgekehrt, die Nachlebenden wüssten alles über uns, und nur die Songs von Taylor wären verloren, niemals ließen die sich wiederherstellen. Deshalb gilt: die Artefakte sind vor der Wirklichkeit.
Und die Artefakte, das ist das Wunderbare, das ist das Ungeheure, die Artefakte reden zu uns. Redet jedes Artefakt zu jedem? Natürlich nicht. Zu dem reden die Werke Shakespeares, zu jenem die Songs der geschwinden Schneiderin. Wer entscheidet das, woran liegt das? Die Artefakte selber entscheiden, zu wem sie reden. Sei nicht traurig, wenn dir „Hamlet“ nichts sagt. „Hamlet“ hat sich eben entschieden, nicht zu dir zu reden. Die Welt ist voll von Artefakten, und täglich werden die Artefakte gemehrt. Tu dich um, halt die Augen offen, du findest die Fülle der Artefakte, die zu dir reden, und das sind dann deine, das sind deine Geliebten, deine Familie, das sind die, die mit dir reden. Suche sie!
Es gibt die Bevormunder, die wollen dir einreden, von welchen Artefakten du dich müsstest angesprochen fühlen. Shakespeare! Das muss dir einfach was bedeuten! Und wenn du dich von Shakespeare nicht angesprochen fühlst, bist du eben unreif!
Lügner. Bevormunder.
Die Artefakte entscheiden selbst, zu wem sie reden.
Und höre: du musst nicht unbedingt verstehen, was die Artefakte zu dir reden. Die Rede der Artefakte ist gewaltig, unbegreiflich. Irgendwann liest du vielleicht Dante. Kann ja sein. Göttliche Komödie. Verstehst du auch nur ein Wort? Vielleicht nicht. Aber es zieht dir den Boden weg, du fühlst, da wird Ungeheures gesagt.
Vor Jahren ging ich einmal mit einer Freundin auf der Schwäbischen Alb spazieren, vor Jahren, in einem anderen Leben. Der Tag war klar und kalt und hell, seidenkühler Ostwind floss über die Höhen. Man konnte weit ins Land schauen, nach Süden, und plötzlich sahen wir in der Ferne nie geahnte Zinnen, blendendes Eis, Gletscherspiel, Schroffen und Burgen aus lärmendem Licht. Wir starrten hinüber, die Erscheinung war so hell, dass uns die Augen tränten. Das muss eine Wolkenspiegelung sein, erklärten wir uns die Sache und konnten nicht aufhören, hinüberzublicken, niemals hatten wir solchen Glanz gesehen, niemals solchen Ruf vernommen.
Nachher besuchten wir die Mutter der Freundin, und die sagte zu unserer Überraschung, ja, das könnte sein, das passiere manchmal an klaren Tagen, man könne dort oben, von der Hochfläche der Schwäbischen Alb aus, die Alpen sehen.
Was wir gesehen hatten, das waren die Alpen.
Warum ich das erzähle? Wir hatten die Alpen gesehen, von weitem. Wir waren nicht dort gewesen, aber wir hatten eine Ahnung empfangen von einer überwältigenden Gegenwart, Ahnung von Glanz und Schönheit und Unbegreiflichkeit.
Und so, genauso, mag es dir ergehen, wenn du das erste Mal Dante liest. Oder Shakespeare. Was immer. Du warst nicht wirklich dort, du hast nicht wirklich die Gelände abgeschritten, du kennst dich dort nicht aus. Im Grunde weißt du gar nichts. Aber du hast einen Eindruck empfangen von einer überwältigenden Gegenwart, von einer Wirklichkeit, die alle Wirklichkeit übersteigt. Du weißt nichts, und du weißt doch. Das Artefakt hat zu dir geredet, und du hast nichts verstanden, du konntest gar nichts verstehen, und das macht nichts, du hast die Rede gehört, die ferne ungeheure Rede des Artefakts, das Artefakt hat zu dir gesprochen, und darauf kommt es an.
Hör nicht auf die Bevormunder. Die Bevormunder wollen dir nicht nur vorschreiben, welche Artefakte du „gut“ zu finden hast, sie versichern auch, wir müssten die Artefakte „erklären“, wir müssten sie „interpretieren“. Wer ist nicht in der Schule mit dieser idiotischen „Gedichtinterpretation“ gequält worden? Aber die Bevormunder sind das, was alle Bevormunder sind: Idioten.
Die Wahrheit ist eine ganz andere. Wir legen den Artefakten die Worte nicht in den Mund. Die Artefakte reden, und sie entscheiden selber, was sie sagen wollen. Wäre es anders, wir würden aus den Artefakten heraus immer nur das Echo unserer eigenen Stimme hören. Aber das ist nicht so. Wenn die Artefakte zu uns reden, sagen sie uns neue Dinge, Dinge, die wir uns nie gedacht hatten. Du hörst zufällig ein paar Takte aus dieser Mahler-Symphonie, und eine neue Welt tut sich dir auf. Dinge werden dir offenbar, von denen wusstest du nichts. Das Artefakt hat zu dir gesprochen, und es hat gesagt, was es für richtig hält, und nicht, was du dir denkst.
Die Rede der Artefakte ist immer neu, immer ungedacht. Eure dämliche „Interpretation“, schiebt sie euch sonstwohin. Die Artefakte reden nicht, was ihr in sie hineinlest. Die Artefakte reden nicht, wann immer ihr euch vor ihnen aufbaut. Sondern die Artefakte entscheiden selbst, wann und zu wem sie reden, und sie reden nicht zu jedem.
Sei nicht traurig, wenn dies wenn jenes Artefakt einfach nicht zu dir reden will. Geh weiter, such weiter. Früher oder später wirst du sie hören, die gewaltige Rede aus unergründlichem Mund.
Die Bevormunder wissen gar nichts. Hör nicht auf die. Sie meinen, die Artefakte sortieren zu können, in wertvolle und weniger wertvolle. Sie meinen, den „Kanon“ etablieren zu können. Sie meinen, dir vorsagen zu können, was die Artefakte sprechen, wenn sie zu dir sprechen. Sie wollen dich belehren. Sie wollen dir erklären, was die Artefakte reden, wenn sie reden. Das alles ist nur leerer Wind. Die Bevormunder wollen sich stellen zwischen dich und die Artefakte. Sie schreien: Sieh uns an! Wir sind wichtig! Wir sind die Erklärer! Ohne uns wäre das Artefakt gar nichts! Wir sind die Grandiosen! Wer ist dieser blöde Shakespeare! Erst wenn wir ihn erklären, ist der wer! Und du musst auf unsere Erklärungen hören, den wir sind die Wichtigen!
Die Bevormunder offenbaren damit nur eines: zu ihnen jedenfalls sprechen die Artefakte nicht.
Denn die Rede der Artefakte ist immer neu, ist immer persönlich. Niemals vorhersehbar, niemals erwartbar. Wenn ein Artefakt zu dir spricht, spricht es zu dir, und zu niemandem sonst. Du kannst dich dann umdrehen und sagen, dies Artefakt hat zu mir gesprochen. Was hat es denn gesagt? wirst du gefragt werden. Und dann kannst du versuchen, die Rede des Artefakts in Worte zu fassen, so gut es dir eben gelingen will. Manchmal kommst du über hilfloses Stammeln nicht hinaus.
Glaub mir, dies hilflose Stammeln ist dein bestes Teil. Wer vor dem hochmütigen Lächeln der Nefertiti den Blick senkt, der wird die Worte nicht finden, die Anmut ihrer Rede zu beschreiben. Aber er hat sie gefühlt. Er hat die Königin reden gehört. Er hat gefühlt, wie ihm die Knie weich wurden. Er hat gefühlt, wie ihm das Herz brach vor ihrer Schönheit und der Schönheit ihrer unverständlichen Rede.
Die Königin hat zu mir geredet! – Was hat sie denn gesagt? – Keine Ahnung, ich hab es nicht verstanden, aber sie hat geredet, zu mir!
Und endlich beugst du stumm den Nacken und sagst nichts mehr, denn das Haupt zu neigen und für einmal die vorlaute Klappe zu halten, das gehört sich vor dem Thron der Königin.
(Text von Peter von Mundenheim, geschrieben für diese Seite, veröffentlicht am 30.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)