Der Ton

Die alte Tante vermochte sich in sonderbare Erregungen hinaufzuschwurbeln, der Junge, schon älter, schon in der neuen alten Stadt, befragte sie einmal vorsichtig nach ihrem Ergehen während der Stiefelzeit, und legte ihr vorsichtig dar, was er gelesen habe, da fuhr sie unvermittelt hoch: Schrei mich nicht an!

Der Junge, vollständig unbegreifend, sah sie an ratlos und sagte, ich hab nicht geschrien, ich hab ganz normal gesprochen —

Und die Tante: Mich einfach anzuschreien! Also!

Der Junge starrte sie an und überlegte, ob es sein könne, dass die alte Frau das bloße Widersprechen, ja, das bloße Darlegen anderer Meinung schon als Anschreien empfinde, die Erfahrung späterer Jahrzehnte belehrte ihn, das sei durchaus möglich, so gehe es in Weibchenhirnen öfter zu, denn das Menschweibchen, wenn es in einer Diskussion nicht weiterweiß, läuft gern heulend zu Unterstützern und beklagt sich, der hat mich angeschrien! der muss sich entschuldigen! und der Angeschuldigte hat dann gut reden, ich hab nicht geschrien, es war ja niemand dabei, und die Begütiger sagen, jetzt entschuldige dich doch, damit sie zufrieden ist.

So wusste die alte Tante auch, unter vier Augen, wenn die Grimmvettel sich wieder einmal empört hatte, wie frech der Junge wieder gewesen sei, und der Junge nun ratlos fragte, aber was hab ich denn gesagt? ich hab doch gar nichts Schlimmes gesagt! – so wusste die alte Tante also als Antwort: Ja aber dein Ton! Du müsstest deinen Ton mal hören!

Der Junge wurde sein Grübeln nicht los, aber was hab ich denn gesagt, dass immer wieder das Geheule losgeht, bei jeder Gelegenheit, von meiner Frechheit? Er konnte sich nicht erinnern, er wusste vor sich selber keine Beispiele zu geben, wusste nur noch, seinen Ton hatte er vorgehalten bekommen. Es war ja ganz egal, worum es gegangen war, ganz egal, wer was gesagt hatte, sein Ton war anstößig.

Ja, aber was ist denn mit meinem Ton? Was ist denn damit? Was hab ich denn gesagt? fragte er wohl einmal.

Und bekam zur Antwort: Du müsstest dich mal hören!

Wenn einer so bis aufs Blut gepeinigt wird, sollte man meinen, er versänke ins Schweigen. Das war auch nicht anders, in der Erinnerung des Jungen, denn so sehr er auch bohrte und grübelte in seinem Alter, er konnte sich niemals erinnern, was er denn gesagt haben solle, nur das puterrot erregte Gesichter sich über seinen „Ton“ entrüstet hatten, das stand ihm immerfort deutlich vor Augen. Und dass er öfter mal etwas gesagt habe, das nahm er schon an, er war ein lebhaftes und impulsives Kind gewesen, und Kinder plappern nun einmal, wie muss es um das Selbstbewusstsein erwachsener Menschtiere bestellt sein, wenn sie sich alleweil, beleidigt bis ins Mark, über den „Ton“ eines Neunjährigen entrüsten?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)