Kompliziert

Die Frau war unvorstellbar dick.

Ihr Gang war kein Schreiten, bei dem man einen Fuß vor den anderen setzt, sie musste jeweils die ganze Körperhälfte nach vorne werfen, und der Auftritt rammte senkrecht von oben nach unten in die Erde hinein, dass die Fleischmasse schütterte.

Das kostete sie große Anstrengung, der Schweiß lief ihr aus dem Haaransatz über die geblähten Wangen hinunter in die vielen Kinne, die sich in den Weiten ihres Überhanges verloren. Sie keuchte schwer, ruderte mit den Armen, ab und zu pustete sie die Luft aus zwischen den breitgemachten Lippen, das verschaffte ihr Erleichterung. Um den Arm gehängt trug sie einen Korb aus Weidengeflecht, der rollte mit den Armbewegungen vor und zurück.

Das war Erlanda, Warlams Mutter.

Sie kam denselben Weg herunter, den vor einer halben Stunde die Kaufleute benutzt hatten, und sie schnaufte. Gleich haben wirs, ermunterte sie sich, sie arbeitete mit dem ganzen Körper, um voranzukommen, der Korb flog hin und her, der Schweiß rann, das Gesäß, die gewaltigen Brustmassen schütterten.

Sie bog vom Weg in den Vorhof ein und steuerte auf den Hauseingang zu, Dank sei Vautrin, murmelte sie, und dann sah sie den Einspänner und das Pferd des Maître.

Sie blieb mit einem Ruck stehen, das war nicht leicht, träge Masse, und schaute. Ihre Lippen bewegten sich; sie blickte sich um, dann fuhr sie zusammen, drehte sich schiebend um die eigene Achse, wobei sie die Arme winkend als Gegengewichte benutzte, und spähte den Weg entlang, der zum Ochsenplatz führte.

„Hallooo …“ rief sie. „Ist dort jemand?“

„Ja …“ ertönte die Antwort vom Ochsenplatz, und Aslan und Roger kamen den Weg heruntergeschritten. Erlanda schnaufte, als sie die beiden Männer auf sich zukommen sah, stellte sich breit hin, was ihr keine Mühe machte, und schaute aus aufgerissenen Augen.

„Wer – wer seid ihr?“ fragte sie furchtsam.

Aslan neigte höflich den Kopf und sagte: „Sei gegrüßt, und Vautrins Segen sei mit dir. Ich bin Aslan, und das ist mein lieber Sohn Roger, und wir sind Kaufleute. Wir kommen von Reinhards Dorf, und sind hierher gewiesen worden als zu einer Stätte, wo es gut ist. Und Gabriele, Reinhards Frau, hat uns geführt.“

„Oh, oh“, machte die dicke Frau, „Gabriele, wo …“

„Hallo, Mutter, hier bin ich!“ rief Gabriele und kam aus dem Haus heraus, wobei sie über das Gerümpel steigen musste, das vor der Türschwelle lag.

„Oh, oh!“ wiederholte Erlanda und wusste nicht, ob vor oder zurück, hin und her gerissen zwischen Gabriele und den Kaufleuten, denn jetzt traten auch noch Magdalena und Inge zu den beiden Männern.

„Ja, also …“ hub Roger an.

„Hallo!“ rief der Maître vom Fluss her. „Ist jetzt jemand gekommen? Vom Hause?“

Erlanda wälzte sich auf der Ferse herum und starrte in das Weidendickicht, aus dem brachen hervor der Maître und Grand Mère, gefolgt von Waldemar.

Die dicke Frau glotzte, dann lächelte sie und rief erfreut: „Oh, ein Maître! das bringt Glück, das …“

Aslan begann feixend: „Ich frage mich, was …“

„Schhhh“, unterbrach ihn Magdalena, „sei still …“ Und gegen Erlanda gewandt, fuhr sie fort: „Du bist gewiss Erlanda, Warlams Mutter, von der uns berichtet wurde?“

„Ja“, sagte Erlanda, „die bin ich … eine Überraschung … so viele Leute …“ Sie wandte sich an Gabriele: „Komm her, mein gutes Kind, ich freue mich, dich zu sehen …“

Gabriele umarmte und küsste ihre Schwiegermutter, die immer noch schwer pustete, und dann sagte Erlanda: „Nun berichte mir, was ists mit den Leuten, was führst du sie her?“

„Also, oh je …“ begann Gabriele.

Aslan trat einen Schritt vor und sagte: „Vielleicht ists besser, ich erzähle und berichte kurz unseren Willen und Begehr. So also verhält es sich, dass Vautrin uns führte …“

„Hallo … was ist denn da los …“ unterbrach ihn eine Stimme. „Wer seid ihr?“

Und Aslan drehte sich um, und da kamen sie hinter dem Schuppen hervor, auf der anderen Hofseite, vier Leute, das konnten nur Warlam sein und Miriam, und Gudrun, und – das Kind. Natürlich, das Kind des Maître.

Die Kaufleute schauten.

Ein heller, blonder Junge von fünf oder sechs Jahren, still, mit verträumtem Gesicht – ängstlich, vielleicht? Er lächelte abwartend, als er die Fremden sah.

„Eluards Kind“, murmelte der Maître. „Also Eluards Kind.“ Er trat ein paar Schritte vor und sagte mit Ernst: „Ich bin Abelard, Maître aus der großen Stadt Paris, die Vautrin gesegnet hat. Der Friede Vautrins sei mit euch. Wir kommen, mit euch zu reden, des Kindes wegen …“

Er ist viel zu ernst, so entsetzlich ernst, dachte Magdalena.

Aslan sagte schnell: „Und gekommen sind wir, zu sehen euch und zu hören, und weiterzutragen euren Ruhm unter den Menschen, denn Teil seid ihr einer großen Geschichte, wie es Vautrin gewollt, und weit schallte uns der Ruf eures Daseins entgegen, da wir von fernher kamen – Kunde ward uns im Dorfe Reinhards von euch, und Gabriele führte uns, da wir begierig waren, euch zu sehen.“

Der Maître spürte, dass er etwas falsch gemacht hatte, er trat zurück und beschloss zu schweigen. Aber dabei seufzte er unhörbar in sich hinein. Er meinte es ja immer gut, aber …

Warlam näherte sich und sagte, mit einem Anflug von Misstrauen: „Vautrin sei mit euch. Ihr seid …“

„Kaufleute“, ergänzte Aslan. „Ich bin Aslan, und diese alle sind meine Familie. Zwei Wagen mit Ochsen gehören uns, die stehen dort hinten, auf dem freien Platz, und findet es euren Beifall, so ist zu handeln unser Wunsch, zu gegenseitigem Vorteil.“

„Nun“, sagte Warlam, etwas beruhigt, „seid uns willkommen. Ich bin Warlam, der Herr dieses Hauses – und das ist Miriam, mein Weib, das mir Vautrin gegeben. Und jene dort ist Gudrun, die zum Hause gehört … und das Kind, es scheint, ihr wisst von ihm, es heißt Eluard, in Pflege nahmen wir es …“

Warlam war ein kleiner dünner Mann mit knittrigem Gesicht, glatt angeklatscht die schmutziggrauen Haare; sein Blick war unstet, suchte überall und glitt ab von den Dingen. Ein Mensch aus Vautrins Ruinen, der sich nährte von dem, was er fand, flink, ängstlich, wenig geschickt, zu bauen und zu arbeiten. Wohl möglich, dass er Reinhards Beifall nicht fand, des schweren Mannes, der arbeitete von morgens bis abends und lebte von dem, was er selbst geschaffen, mit Vautrins Beistand, und mehrte seinen Wohlstand.

Miriam ähnelte Gabriele, doch war sie kleiner und zarter, sorgenvoll, sie wirkte verhärmt, hatte wohl von dem Charakter ihres Mannes angenommen, Unsicherheit war über ihr, wo Gabriele ohne Angst in die Zukunft blickte, sie musste leben von der Hand in den Mund, wie der Tag es brachte, das hatte sie zermürbt vor der Zeit.

Gudrun war anders; noch jung, dreizehn oder vierzehn Jahre, ein festes, kräftiges Geschöpf mit gutem Leib und zupackenden Händen: ein Tierchen wohl, mit lieben, dummen Augen und stumpfer Nase und weichen Lippen.

Man konnte Warlam verstehen.

„Ja dann …“ sagte Erlanda und pustete, „gehen wir ins Haus und reden miteinander.“

„Wollt ihr bleiben?“ fragte Warlam vorsichtig.

„Nun“, entgegnete Aslan, „wohl über Nacht, wenn du uns das Gastrecht deines Bodens gibst. Heu haben wir, unsere Tiere zu füttern, so wird dir kein Schade entstehen.“

„Und ihr selbst?“ insistierte Warlam.

Miriam errötete, sagte aber nichts.

„Wir Männer werden bei den Tieren schlafen, denn der Aufsicht bedürfen sie, und die Frauen und das Kind – “ Aslan warf einen forschenden Blick auf Warlams Antlitz, las, was dort zu lesen stand, und endete kalt: „ – auch.“

Gabriele biss sich auf die Lippen.

„Seid uns willkommen“, sagte Warlam erfreut. „Wohl möglich, dass wir handeln können, ja, wohl möglich. Sehenswerte Dinge birgt mein Haus, offen steht mir die Stadt, den Fluss hinunter, ja …“

„Auf ein Wort“, sagte der Maître. „Ist Platz in eurem Schuppen?“

„Wie …“ fragte Warlam beunruhigt. „Wofür?“

Der Maître trat auf ihn zu, fasste ihn scharf ins Auge und sagte mit Bestimmtheit: „Mein Pferd leidet es nicht, im Freien zu stehen des Nachts – wie du verstehen wirst. So gib ihm Obdach.“

Warlams Blick glitt unstet über der schwarzen Rock des Maître, dann öffnete er den Mund, um zu antworten, aber Erlanda kam schwer rudernd herbei, ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern fasste den Maître bei der Hand und sagte fröhlich, doch mit Respekt: „Natürlich haben wir Platz für dein Tier, das deinem Herzen nahe ist – und für dich auch, bei Vautrin. Du bist unser Gast. Jawohl, das bist du.“

„Ich danke dir, Schwester“, sagte der Maître vergnügt, „Vautrins Segen sei mit dir. Übrigens bittet diese gute Frau, mit dir zu reden – viele Dinge weiß sie, ihr solltet euch austauschen.“ Und er wies auf Grand Mère, die schon mit Spannung wartete.

„Gewiss, wir werden reden“, sagte Erlanda. „Gegrüßt seist du mir, Schwester.“

Warlam knurrte, wagte aber nichts zu sagen.

„Also“, sprach Miriam, „gehen wir alle hinein, dass wir bereden die Dinge, um deretwillen ihr gekommen seid.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)