Und endlich kehrte sie zurück, die alte Tante, zurück von der Kur.
Die Grimmvettel teilte diesen Umstand dem Jungen mit zwischen Tür und Angel. Ausnahmsweise hatte er einmal Glück, er erzählte der anderen Großmutter von dem Sachverhalt, und sie sagte spontan, da holst du deine Tante doch ab am Bahnhof! Der Junge sah sie groß an, er hatte an diese Möglichkeit überhaupt nicht gedacht, ihm war das Kommen der Tante als ein Ereignis erschienen, unabhängig von seinem Tun, abzuwarten vor Ort, und die andere Großmutter, in ihrer praktischen Art, sagte herzhaft-ermunternd, na, das gehört sich doch wohl so.
Was sich gehört, davon hatte der Junge keinerlei Ahnung. Es gab keine stabile und täglich gegenwärtige Instanz in seinen Leben, die ihm vertrauenswürdig gesagt hätte bei allen Gelegenheiten des Alltags, was sich gehörte, und da ihm also niemand sagte, was sich gehöre, wusste er nicht, was sich gehört, und der fassungslose Tadel überschlug sich rundum, der weiß wohl nicht, was sich gehört.
Da er also nie wusste, was sich gehört, versuchte er in seinen verschiedenen Lebensverhältnissen rauszubekommen, was sich gehört, und hatte unendliche Mühe damit, denn der Gebote, was sich gehört, sind unzählige in den Verkehrsverhältnissen des Menschtiers. Er verlegte sich auf das Überlegen, ich berichtete auch davon schon, was das betreffende Gegenüber jetzt wohl von ihm erwarte. Da er in den meisten Fällen nicht wohl fragen konnte, bedeutete dies blindes Raten, das so gut wie nie ins Schwarze traf, und infolgedessen immer ängstlicher, zuweilen panisch wurde. Was erwarten die jetzt von mir? Der gesellschaftliche Überlebensvorteil eines gut aufgelegten Menschenkindes, das von Haus aus zuverlässig mitbekommen hat, was sich gehört, ist gewaltig, und selbstverständlich sahen die Vorteilsinhaber auf den Jungen herab, ihren Besitz als verdienstförmig, seine Ermangelung dieses Besitzes als schuldförmig einstufend, und der Junge sah hinauf in die fassungslos geblähten Nasenlöcher und fragte sich ängstlich, was erwarten die jetzt von mir? Er hatte niemanden, den er hätte fragen können. Es gehörte auch zum Lieferumfang seiner rasenden Hoffnungen, es werde eines Tages, bitte bald! ein Weibchen mit praktischem Verstand geben in seinem Leben, das ihm in allen Fährnissen umstandslos sagte, was sich gehört. Dann müsste er nicht mehr grübeln, was erwarten die jetzt von mir.
Da des Ganzstiefelviehs Königsdisziplin das Ausmitteln falscher Annahmen über ihn war, die in namenloser Entrüstung sofort und auf der Stelle zu widerlegen waren – was denken die jetzt über mich? da sofort einschreiten! denen die Falschheit auf den Kopf zusagen! die sofort widerlegen! – lebte der Junge in einer Welt widerstreitender Befehle, in der jede Handlung vorweg als schuldhaft falsch einzustufen war, und nicht nur jede Handlung, sondern auch jedes Denken, speziell solches, das gar nicht gedacht worden war, sondern von dem Ganzstiefelvieh in schnaubender Empörung nur ausgemittelt. Das Ganzstiefelvieh schrie täglich in ihn hinein, was er sich jetzt wieder einbilde, arroganter Bengel, sowas von arrogant, und der Junge hatte keine Ahnung, was er sich jetzt wieder eingebildet hatte, und wie das Vieh überhaupt auf die Idee kam – was er wusste, war nur, der geringste Widerspruch würde mit drescher Zusammenschreiung belohnt, da doch lieber den Mund halten und also die Entlarvung, was er jetzt wieder Falsches gedacht habe, auf sich sitzen lassen, was auch nicht besser war, denn die Entlarvung hatte oft so Ungeheuerliches zutage gefördert, dass das Ganzstiefelvieh gar nicht anders konnte, als schrei diese Beleidigung zu Boden zu schlagen. Der ratlose Blick des Kindes war bald nicht mehr ratlos, sondern starr, denn das Kind wusste, jeder Ausdruck würde missdeutet werden als ungeheuerliche Majestätsbeleidigung, der ausdruckslose Ausdruck aber erst recht, nämlich als Abständigkeit Ungläubigkeit Zurückweisung, und was sonst an Respektlosigkeit zu denken war, und irgendwo flackerte immer im Hintergrund des kindlichen Bewusstseins die rasende Frage, was erwartet der jetzt von mir, es muss doch irgendeine Regel geben irgendeine Richtschnur!?
Gab keine. Der Junge hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, er wurde in verlassenen Zimmerchen abgeparkt, und er wusste nicht, was von ihm erwartet wurde, das Gemutter redete monatelang nicht mit ihm, und er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, er wurde zusammengebrüllt und niedergehasst, und er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, nur das eine wusste er für gewiss: dass er keine Ahnung hatte, was von ihm erwartet wurde, das war ihm schuldhaft zuzurechnen. Das wusste er deshalb, weil es ihm täglich stündlich reingerieben wurde, da gab es keinen Zweifel, das war die eine Bestimmung in seinem Leben, die hielt Stich, er war schuldig. Schuldig zu atmen, schuldig, am Leben zu sein.
In diesem einen Fall, wie gesagt, hatte er mal Glück, die andere Großmutter sagte ihm, was sich gehöre, und er trat erregt den Heimweg an in dem großen Gedanken, ich hole die alte Tante am Bahnhof ab. Er kam sich ordentlich erwachsen vor bei dieser Vorstellung, hatte nur keine Ahnung, wann genau denn nun die alte Tante ankommen solle, und platzte, in einem seltenen Anfall von Entschlossenheit, noch unter der Wohnungstür der öffnenden Grimmvettel ins Gesicht mit der Ansage, ich hol die Tante vom Bahnhof ab, wann kommt die?
Die Grimmvettel, überrumpelt, spuckte die Uhrzeit aus, der Junge aber, untergehobelt von Geburt an, zog aus diesem Erfolg nicht etwa den Schluss, so musst du es immer machen, sondern legte ihn ab unter der Rubrik „außerordentliche Ereignisse, nicht zur Wiederholung geeignet“.
Wie auch immer, er stand auf dem Bahnsteig, als die alte Tante einlief, dies war noch eine Zeit, da man im Scheißland, ernsthaft, für das bloße Betreten der Bahnsteige eine Bahnsteigkarte lösen musste, also bezahlen, und es gab einen zentralen Zugang mit Sperre und viel Gegitter, das bis zur Decke reichte, für den Fall wohl, dass die erregten Massen würden drüberklettern wollen, und am Durchgang saß in einem verglasten Häuschen ein Kontrollbeamter, dessen einzige Aufgabe es war, die Fahrkarten und eben die Bahnsteigkarten der Zutritt Begehrenden zu kontrollieren, so verdiente der sich seinen Lebensunterhalt. Das Kontrollhäuschen war übrigens nicht beheizt und gerade so groß, dass der Mann darin sitzen konnte, von Blech und Glas umgeben, und er wartete nur auf eine Gelegenheit, in kreischer Schreie losbrüllen zu dürfen. Er war Machthaber, und man war im Scheißland, da war das kreischschreie Losbrüllen noch so duodezer Machthaber Normereignis, und der Junge drückte sich lange in der Bahnhofsvorhalle herum, bevor er sich entschlossen an den Gang durch die Sperre wagte, er hatte schon einige Zeit gebraucht, Mut zu mustern zum Lösen der Bahnsteigkarte, denn zu diesem Behufe musste er ebenfalls an einem Schalter vorsprechen, hinter dessen Verglasung wieder ein Machthaber saß, dessen tägliche neun Stunden ähnlich beengt waren wie die des Mannes im Kontrollhäuschen, ihr versteht das Prinzip, für ein gepeinigtes Kind wie den Jungen war der Gang durch diese Stationen ein mit Stachelfallen gespickter Hürdenlauf, allein schon, wie er peinsam das Krähen seiner Stimme hörte, als er der Bahnsteigkarte begehrte! und es hätte ohne Weiteres im Bereich des Möglichen gelegen, dass ihn der Machthaber hinter dem Schalter angeherrscht hätte, was willst du, Junge? sprich deutlich! pieps hier nicht rum! wenn du was willst, sag es so, dass man es verstehen kann! wie alt bist du überhaupt! Kinder haben hier nur in Begleitung Erwachsener Zutritt! wo kommst du überhaupt her! was bildest du dir überhaupt ein! kommt hier einfach her und glaubt, er kann Forderungen stellen! wer bist du überhaupt! sag mir mal deinen Namen! was? was?!? lauter! wer soll das denn verstehen! glaubt wohl, er hat es nicht nötig, der Bengel! arroganter Bengel! sowas von arrogant!!
Ihr müsst bedenken, der Junge, solches erwartend, hatte nicht etwa Halluzinationen, sondern stand vor der echten und konkreten Möglichkeit, solches könne geschehen, aus dem Stand heraus und ohne Vorwarnung, die Realisierung oder gnädige Nichtung allein abhängig von der Tagesform des eingekastelten Machthabers, und niemand, hätte der Machthaber sich zur Realisierung entschlossen, in der Eingebung eines Augenblicks, hätte ihn hinterher zur Rede gestellt, niemand, man war im Scheißland, dort geschahen solche Dinge, jeden Tag.
Der Junge hatte einen ausgemachten, bösartigen, gemeingefährlichen Irren zum Vater, eine größenwahnsinnige Kröte zur Mutter, die mental niemals über den Stand einer Dreijährigen hinausgekommen war, er hatte eine hassspuckende Vettel zur Großmutter, die ihre Krötentochter als Goldenes Kind betrachtete und gegenüber dem Jungen den einzigen Gedanken hatte, dass sowas wie der eigentlich nicht das Recht hätte zu atmen, er hatte einen blickvermeidenden Kriminellen zum Großvater, dessen Innenleben, wenn er denn eines besaß, eine black box war, und er hatte keine Ahnung, was sich gehörte, nein, das wusste er nicht, sowenig er wusste, was man von ihm erwarte, aber das eine wusste er jetzt doch, die alte Tante kommt, und alles wird gut.
Die alte Tante kommt, und sie wird mich festhalten.
Das war es. Das war sein geheimer Hintergedanke, der nicht einmal ihm selber zur Klarheit gedieh. Die alte Tante wird mich in die Arme nehmen, sie wird die Arme um mich schließen, und ich werde geborgen sein ich werde gerettet sein nichts mehr wird mich berühren können ich werde daheim sein, und alle Tage werden sein geschmiedet aus Gold.
Rettung Rettung Rettung.
Ihr versteht, nichts anderes erwartete er, wenn ihn unversehens die Gewissheit überfiel, sie wird kommen. Sie. Der Inbegriff meines Lebens, die Erfüllung. Er sah die Sylphide an und wusste, du, du bist es, bitte, sieh mich doch an, nimm mich doch in die Arme, rette mich doch.
Die Sylphide war nur ein Mädchen, so oder so wäre die Erwartung unerfüllbar gewesen, kein Menschenweibchen kann so etwas leisten, möchte man meinen, aber die Meinung wäre falsch, alle Menschenweibchen sind nur Menschenweibchen, schwach und fehlbar, aber die Männchen halten sich an ihnen fest und finden Halt, wirklichen Halt, so hat SIE die Welt eingerichtet, IHRE Welt, und die Erwartung des Jungen, seine brennende Hoffnung, war nicht so abwegig, er hätte wirklich Halt finden können an einem Menschweibchen, wenn dies denn in seinem angeborenen Geschick vorgesehen gewesen wäre, vorgesehen aber war, er würde auf die Pornoprinzessin treffen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)