Ach, sie waren doch arm, Gabrieles Verwandte …
Ein einsames Gehöft, Hauptbau mit zwei Anbauten und Schuppen, an kleinem Fluss. Ein alter leckender Kahn schaukelte am Ufer, vor einer schmalen Holzbrücke, deren Planken glatt waren und voller Algen und Moos … dichte Weidengebüsche bewuchsen die Ufer, die Zweige hingen hinunter ins Wasser, träumend, dunkel.
Ein wunderlicher Ort.
Auf dem Vorhof pickten ein paar Hühner, und am Schuppen meckerte eine Ziege, und jenseits des Flusses, über die Brücke, war ein kleiner Garten eingegrenzt, da standen Gemüsebeete, von morschem Lattenzaun beschützt. Allerhand Gerümpel lagerte um das Haus, an die Außenwände gelehnt, Gabrieles Schwager schiffte wohl gelegentlich zur Stadt, zur unbewohnten Stadt, und suchte und sammelte, aber er tat es nicht mit Geschick, fand wenig Brauchbares, raffte, was er gerade fand.
Kühl war es an diesem Ort, seltsam kühl im Weidenschatten, vom Fluss her. Der Boden war feucht. Hatte es geregnet, mochten die Pfützen nicht trocknen, und die Hühner hatten schmutziges Gefieder … eine Kuh stand am Ufer, die Beine halb im Wasser, und weidete in den Wasserpflanzen, wie wunderlich … ihre Hörner waren groß und rund geschwungen, und braun war ihr Fell, als käme sie aus dem dunklen Wasser im Schatten der Weiden, das unter ihr hinwegfloss, die leichten Uferbiegungen entlang, Algenströmung, flach und klar …
„Hallo … !“ rief Gabriele, „Miriam! Hörst du mich? Ich bins, Gabriele!“ Es blieb still im Haus, war wohl niemand daheim.
„Sie mögen fort sein, Pilze zu sammeln“, sagte Gabriele entschuldigend. „Und Erlanda, Warlams Mutter – das will sagen, die Mutter von Miriams, meiner Schwester, Mann – sie ist vielleicht aus, Kräuter zu schneiden – tiefes Wissen besitzt sie.“
Grand Mère hörte das.
„Sonst gibt es niemanden?“ fragte Roger. „Drei Personen also?“
„Eine noch“, auskunftete Gabriele mit unbestimmter Unruhe, „Gudrun, sie ist nicht verwandt, ein junges Mädchen …“
„Vier also“, sagte Aslan. „Und dieser Ort nährt sie?“
Gabriele seufzte. „Nicht so gut“, sagte sie. „Schon oft hat ihnen Reinhard, mein Mann, angeboten, zu ziehen in unser Dorf, und zugeredet habe ich ihnen, denn fruchtbar sind unsere Böden und ließen sich noch urbar machen weithin und harren der Bestellung; aber sie wollen diesen Ort nicht aufgeben, wollen unter sich bleiben …“ Sie brach ab und redete nicht weiter.
Magdalena sah sie an mit klarem Blick und verstand, was vorging; und zufällig, vielleicht, trafen sich ihre und Inges Blicke, und Inge hatte auch verstanden. Kompliziert waren die Menschen und verwundbar, so behutsam musste man vorgehen. Miriam, sie schämte sich vielleicht dessen, was sie allein nicht verhindern konnte, und Gudrun mochte befürchten, in Reinhards Dorf, bei Miriams Schwester, als der Frau des Dorfherrn, schweren Stand zu haben; und Warlam – warum sollte er sich der Missbilligung seines Schwagers aussetzen? So kompliziert, so verwundbar …
Für einen Augenblick herrschte verlegene Stille, und der Maître senkte den Kopf, um ein amüsiertes Lächeln zu verbergen.
„Nun, also“, sagte Aslan verwirrt und blickte zwischen dem Maître und den Frauen hin und her, „so müssen wir eben warten … gehn wir und versorgen die Wagen.“
„Ja, gewiss“, fiel ihm Gabriele bei, „dort oben, weiter weg vom Wasser, ist ein guter Platz, dort können die Wagen stehen und auch die Ochsen – Weide allerdings wird nicht zu finden sein, der Ort ist karg – “ sie brach erneut verlegen ab.
„So werden sie Heu bekommen müssen“, sagte Roger, „wir haben geladen.“
„Ich muss euch bitten …“ fing der Maître an.
„Das macht keine Schwierigkeit“, sagte Aslan.
„Ich werde euch bezahlen“, sagte der Maître befriedigt, „ihr müsst verstehen, ungewohnt ist das Reisen für mich.“
Aslan winkte ab. „Bedenke dich nicht, du bist unser Gast.“
Sie führten die Ochsen am Zügel zu dem gewiesenen Platz, eine karge Lichtung wars, zwischen Weiden und Erlen, fast nackt der Boden, und Moses Maimon grunzte.
„Wir werden bei den Wagen schlafen, zur Nacht“, sagte Aslan.
Roger nickte, bedachte sich, sagte: „Die Frauen und Waldemar allerdings mögen im Hause bleiben, sofern sich Platz findet, was meinst du?“
„Ja“, sagte Aslan, „so wird es sich einrichten lassen.“
Der Maître war auf dem Vorhof geblieben und hatte sein Pferd ausgeschirrt; der kleine Wagen mochte hier stehenbleiben, und für den Falben, so hoffte er, würde sich ein Platz im Stall finden. Nicht jede Nacht sollte das Tier im Freien stehen müssen, es war empfindlich, er wusste es, und wenn die Morgen kühl waren und Nebel brachten …
Er zog den Kopf des Pferdes zu sich herab und streichelte es, die glatte Stirn hinunter, zwischen den Augen, und es stand ganz still.
Roger kam allein zurück.
„Unbequem ist der Ort“, klagte er. „Einer von uns wird stets bei den Tieren bleiben müssen. Doch ist dies nicht zu ändern. Aslan steht im Wagen und ordnet die Waren, wenn ihr Frauen euch zu ihm gesellen wollt …“
„Das ist ein guter Gedanke“, lobte Magdalena. „Wenn wir schon hier warten müssen, können wir uns bekümmern um unseren Besitz – der Überblick ist wichtig.“
„Besser wärs“, fiel ihr Inge gereizt ins Wort, „wir könnten auch etwas davon verkaufen.“
Gabriele schaute schuldbewusst, aber Magdalena sagte: „Sei gut, mein schönes Kind, nicht jeder Tag kann den Kaufleuten Glück bringen.“
Inge wurde rot und war schnell besänftigt, sie hörte es gern, wenn Magdalena sie „schönes Kind“ nannte. Dass sie hübsch war, wusste sie, doch sagte Roger es ihr zu selten, und dass sie Magdalenas Kind war, nun, man konnte es manchmal geradezu vergessen, seit Waldemar da war. Sie nahm den Arm ihrer Mutter und ging mit ihr zum Ochsenplatz hinüber.
Der Maître lächelte schon wieder amüsiert, und Grand Mère fragte ihn geradezu: „Hast du eine Frau, Abelard?“
Donnerwetter, dachte Waldemar, wie sie ihn anredet, sie sagt einfach seinen Namen, als wäre es gar nichts …
„Nein“, antwortete der Maître und zog die Stirn in Falten, „ich bin allein, Vautrin hat es wohl so gewollt …“
„Hm“, machte Grand Mère, „dennoch scheinst du die Frauen zu verstehen. Eluard hatte ein Mädchen gefunden, da droben im Gebirge, sie war sicher schön, wir hörten die Geschichte, ehegestern, Gabriele erzählte sie …“
„Soso“, sagte der Maître, „sie erzählte die Geschichte von Eluard? Wir haben sehr getrauert, als uns die Kunde war von seinem Tod.“
Grand Mère nickte und fragte dann: „Was meinst du, gehen wir zum Ufer und schauen nach Kräutern?“
„Sehr gern“, sagte der Maître. „Doch wirst du mich lehren müssen, nur wenig weiß ich davon, gerade das, was mein Bruder in Vautrin, der Maître Raffael, mein Kollege, mir beibrachte …“
„Wir werden sehen“, sagte Grand Mère erfreut. „Vielleicht gibt es Dinge, die wir tauschen können.“
Sie schob ihren Arm unter den des Maître, und sie gingen durch die dichten Weiden hinunter zum Ufer, und Waldemar schloss sich ihnen an.
Gabriele sah sich alleingelassen auf dem Vorhof; so ging sie ins Haus, denn sie kannte sich ja aus bei ihrer Schwester und dem Schwager und … sie runzelte die Stirn und begann, in der Küche ein wenig sauberzumachen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)