„Nun“, sagte Magdalena, „jetzt haben wirs ja bald.“
Der Maître führ vorweg. Tänzelndes Pferd vor leichtem Wagen. Der Falbe hatte nicht hinter den Ochsen herzockeln mögen, und schon gar nicht hatte er sich zwischen die Wagen zwängen lassen, so musste er sich an die Spitze setzen, nun langweilte der Schlendergang das leichte Tier, auch der Maître sah sich immer wieder ungeduldig um, doch war da nichts zu ändern.
Der Weg führte durch dichten Buchenwald, die Äste schleiften an den Wagenplanen, unterm Boden rauschte und kratzte das das hohe Gestrüpp. Doch war der Grund leidlich eben und bequem zu befahren, die Ochsen schritten aus in gleichmäßigem Tritt unter dem knarrenden Joch, die Häupter und Augen zu Boden gesenkt. Moses Maimon empfing gelegentlich Witterung von dem schimmernden Pferd, dann späte er nach vorne und spreizte die Nüstern; der Maître sah zu, genügend Abstand zu halten.
„Ich fürchte mich – vor ihm“, bekannte Gabriele.
„Vor dem Maître?“ fragte Magdalena.
„Ja – huh“, antwortete Gabriele, „er ist ein fremdes Wesen unter uns … sein Blick … er ist schwarz wie sein Gewand … er wird Unglück bringen … man muss sich vorsehen …“ Sie hatte leere Augen und redete und redete. Aslan schaute sie flüchtig an. Sie war abergläubisch, wie sinnlos, das war so die Art der Dörfler, sie sahen nicht viel, reimten sich die Dinge auf ihre Weise zusammen, man musste sie gewähren lassen, solange kein Unheil entstand daraus …
„Aber hör doch“, sagte Magdalena besänftigend, „ein Maître – er ist ein Mensch wie wir, ein Gelehrter, ein Meister, von großem Ruf und Können, aus der gewaltigen Stadt Paris – was sollte an ihm unrecht sein?“
„Er bringt Unglück. Ich fürchte mich vor ihm“, wiederholte Gabriele störrisch.
„Na ja“, sagte Magdalena, „er ist ein wenig finster, er hat wohl viel zu denken, auch darf er nicht alles sagen … du musst es dir nicht so zu Herzen nehmen …“
Aslan lächelte flüchtig in sich hinein. Ein Huhn … Gabriele war ein Huhn.
In Rogers Wagen saß Waldemar und kränkte sich. Er hatte nicht gewagt, den Maître zu bitten, auf dem Einspänner mitfahren zu dürfen, so gern hätte er es getan, er war den ganzen Morgen um den Schwarzgekleideten herumgeschlichen, aber der war nicht auf den Gedanken gekommen, es ihm anzubieten, er hatte wohl andere Sorgen. Es schien nicht so, dass er sich aus Kindern nichts machte, er war eher abwesend, hörte nicht richtig zu, wenn man mit ihm sprach, vergaß gleich wieder, was man gesagt hatte. Er schien immer zu grübeln …
„Wird er lange bei uns bleiben?“ krähte Waldemar aus seinen Gedanken heraus.
„Wie?“ fragte Grand Mère und hielt flüchtig inne im Maschenzählen, „der Maître?“
„Ja.“
„Das weiß ich nicht, mein Kleiner. Bis zum Ort des Kindes wird er uns begleiten, und dann wird er seine eigenen Wege verfolgen, denn sie werden getrennt sein von den unseren, so denke ich. Doch wird man abwarten müssen, was die Zeit bringt.“
Sie nahm behaglich eine neue Reihe auf und fuhr fort: „Denn bestimmt sind die Wege des Menschen durch die Zeit, die ihre Bahnen lenkt, und nur Vautrin ist es, der den Lauf der Dinge kennt. Indes gibt es alte Weisheit“ – sie senkte die Stimme – „die zum Sehen gerät, dem Sehen der ungewussten Dinge. Viel Geheimnis wird da kund, dem Kundigen. Aus dem Dunkel steigen die Gestalten empor, wers zu deuten vermag, der deute, Verdecktes wird ihm da klar. Alten Rat gab Vautrin, und wer ihn vernahm, der hüte ihn wohl.“
Waldemar hörte zu mit offenem Mund, ja, das war es, Grand Mère wusste wohl viel, und mehrte ihr Wissen täglich, noch am Morgen der Abreise von Reinhards Hof hatte sie mit Rabens Frau gesprochen, der Schielenden, die zur Mitte des Jahres Frühling und Herbst gleichzeitig sah und die weissagen konnte aus der Aschenglut, und die beiden Frauen hatten Wissen getauscht, Grand Mère aus der Großen Weisheit der Fahrenden, Rabens Frau aus dem Dämmer und ruhigen Warten der Dörfer, ja, sie hatten sich zu belehren gewusst, viel hatte die eine erfahren von der anderen, und sie waren befriedigt geschieden voneinander.
Grand Mère saß da, auf schaukelndem Wagen, zählte die Maschen und war voll des Wissens.
„Dauert es noch lang?“ fragte Waldemar.
Sie verstand, was er meinte, und antwortete: „Oh nein, kleiner Junge, nur kurz noch sein wir der Weg zu Gabrieles Verwandten – sei geduldig, du wirst sehen.“
Waldemar setzte sich zurück und seufzte. Unterm Wagenboden schleiften die hohen Gräser, das war ein währendes leises Geräusch, raunende Begleitung zum Rumpeln der Räder, Murmeln der Wellen unterm Schiffsrumpf. Einschläfernd …
Doch Waldemar schlief nicht ein, er kroch nach hinten und schaute zur Plane hinaus, sah die Baumstämme entlangwandern am Weg, sich zusammenschließen, verschwinden. Ohne Ende waren die Wege … morgen würde er den Maître bitten, auf dem Einspänner mitfahren zu dürfen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)