Bald wird es dämmern.
Eng drängte sich die Herde des Dorfes: wenige Gehöfte, ein Bach. Hier hatte nie jemand gewohnt, das schmale Sträßchen, das in den Ort hineinführte, lag versperrt, sperriges Balkengetrümmer, das Gras stand brusthoch, leise rauschten die Baumwipfel. Wo eine stehengebliebene Kaminzinne die Trümmergärten überragte, klapperten die Abendstörche, sie fanden Nahrung genug in den Wiesen, durch die der Bach floss, in eiligen Schlingen. Das Gitterwerk der Dachsparren fügte ein braunes Muster, zögernder Versuch, umhegt von grünem Wachstum, ganz ungeordnet. Efeu kletterte an den Hauswänden, wilder Wein, wilde Erbsen, aus den Fenstern winkte Astgefieder von Sträuchern und kleinen Bäumen. Die Häuser standen im Gewächs des Lebens, Wurzeln drangen durch Wände, Balken, Böden, Moos bedeckte die Schattenflächen, eingehüllt und durchdrungen war das Gebaute von fortzeugender Kraft, war nur noch Teil seiner eigenen Wildnis, stand vermöge der Wurzeln und Fasern, die es durchwuchsen.
Der Wind strich durch die Winkel und fand hurtiges Kleinleben, eine bunte Komposition, deren Stimmen einander antworteten: die Spinne im Moos, unter dem modernden Dachstuhl der Großen Halle, die Mäuse vor ihren Bauten im Mauerlabyrinth, das spähende Wiesel, die Vögel auf den Dächern, die Pflanzen, die sich daranmachten, ihre Samen zu zerstreuen. Schweigend horchten die Häuser und antworteten auf alles, jeder Stein verbunden mit jedem anderen.
Am Ortsausgang, wo sich die Mauern dicht am Bach zusammenschlossen, grünten kühl und schattig die Farne, von hellen Schnecken begangen.
„Wie weit haben wirs noch?“ fragte Aslan, der die Ochsen gezügelt hatte und nach dem stillen Dorf hinübersah.
Gabriele überlegte. „Zweieinhalb Stunden etwa, mit dem Pferd“, antwortete sie dann.
„Gut“, entschied Aslan, „dann bleiben wir hier über Nacht, morgen früh fahren wir weiter.“ Er sah sich um und fuhr fort: „Es scheint ein guter Ort …“
Gabriele sagte nichts, sie war traurig, dass es bis morgen dauern sollte, ehe sie ihre Verwandten sähe, sie wollte auch nicht gar so lange von zu Hause fortbleiben, doch man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen.
„Bleiben wir hier?“ rief Roger von hinten, und auf die bejahende Antwort Aslans hin seufzte er zufrieden: „Schluss für heute …“
Links vom Ortseingang, wo der Wald dicht an die Häuser herantrat, lag gebettet zwischen Bäume und grünüberwachsene Schutthügel eine kleine, trockene Wiese, ein guter Platz, Aslan und Roger gingen einige Male auf und ab, dann nickten sie und wiederholten laut: „Ein guter Platz.“
Sie lenkten die Gespanne im Bogen auf den hinteren Winkel der Wiese, so dass die Wagen mit dem Rücken zu den Häusern zu stehen kamen, nebeneinander, die Joche gegen den Weg gerichtet. Die Frauen halfen, die Tiere auszuschirren.
Moses Maimon schüttelte die Wamme, ein warmer Tag war das gewesen, er hatte Durst.
Drüben, auf der anderen Seite des Orteingangs, schlängelte sich der Bach durch die offenen Wiesen.
Pustend und Selbstgespräche führend machte sich Grand Mère daran, die nötigen Töpfe und Vorräte und Gerätschaften vom Wagen herunterzuheben, sie erwog und spekulierte und regelte, wie der Reihe nach vorgegangen werden müsse. Zuerst das Feuer.
Magdalena und Inge schlenderten hinüber zum Wald, um Brennholz zu suchen, der Wald war kühl, dicht das Unterholz, die kleinen Sträucher stritten sich um jeden Flecken Lichts, der das Blätterdach durchdrang.
Magdalena stand im Halbdunkel zwischen den Stämmen, blickte hinauf ins Dämmer, träumte ein wenig … dann ermunterte sie sich und sagte zu Inge: „Wir haben Zeit, suchen wir einen ordentlichen Vorrat, dass wir ihn mitnehmen können.“
Inge nickte. „Ja, das wird gut sein. Wir haben schon lange nicht mehr gesammelt, und es wird bald Regen kommen.“
Roger und Aslan führten die Ochsen zum Bach. Die dunklen Tiere tappten behaglich, des Joches ledig, hinter den Männern her, Abend wurde es, Ruhe.
„Waldemar, wo …“ rief Roger fragend und blickte sich um. „Ah, da bist du ja“, sagte er, als das Kind hinter einem dicken Ochsenhintern hervorschaute.
„Ja“, sagte Waldemar. Er ging immer mit, wenn die Ochsen zur Tränke geführt wurden, er durfte dann auf sie aufpassen; es war merkwürdig, wie still die gewaltigen Tiere dem kleinen Menschen gehorchten, sie gaben gutmütig acht, nicht auf ihn zu treten, sozusagen …
Der Bach gluckerte leise, kristallklar schwätzte sich das Wasser durch seine Windungen, feinfiedrige Wasserpflanzen winkten hinterher den enteilenden Wellen, lautloses Jubelspalier … Die Ochsen seufzten und stiegen behaglich den niedrigen Uferrand hinab, hier konnten sie trinken vom Quell, man musste ihnen das Wasser nicht schöpfen.
Die beiden Männer spazierten zurück zu den Wagen, Arme auf dem Rücken, und ließen Waldemar allein mit den Tieren. Der kleine Junge setzte sich auf die Böschung, rupfte eine Grasähre, um damit zu spielen, er sah zu, wie die Ochsen ihre Samtnasen in das kühle Wasser tauchten. Der Bach murmelte, von den Wagen her tönte Geklapper, Grand Mère machte sich ans Kochen, eine unsichtbare Lerche sang, sonst war Stille. Ein grauer Schimmer floss über die Wiesen, es wurde Abend …
Die Ochsenzungen schöpften das Wasser, zwischendurch pusteten die dicken Nasen, Moses Maimon blickte gelegentlich auf, das oblag ihm, ein kurzer Blick genügte: ob alles in Ordnung sei. Und Waldemar saß dabei und dachte an nichts, er hörte zu, wie in gedämpften Schlucken das Wasser durch die Ochsenkehlen zur Tiefe pumpte, und wie es in den dicken Leibern atmete. Vier dunkle Tiere am Wasser.
Waldemar saß bei den Tieren.
Aslan und Roger gingen, den Frauen beim Holzsammeln zu helfen. Sie ließen sich Zeit, der Vorrat bedurfte der Auffüllung, nichts misslicher als Regenwetter, und kein trockenes Holz zur Verfügung.
Und Grand Mère bereitete den Platz und grenzte eine runde Feuerstelle ab, sorgfältig mit Steinen eingefasst, davon gab es genug am Dorfrand.
Gleich würde sie den Wasserkessel aufhängen können.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Abschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)