… es waren die kreischenden Frauen, vor denen er sich wirklich fürchtete, die enthemmten Hexen, spuckend und giftend vor Hass, es waren die rotgesichtigen Schrapnelle, beweisfuchtelnd, die bebenden Geschosse, atemlos in ihrer Wut, vor denen der Junge erkannte, es ist mal wieder so weit, es passiert mal wieder, und dann stand oder saß er, Eis in den Adern, Junge unter Strom, und seltsam war, er wirkte dabei ganz kühl und unbeteiligt, schaute an die Hassmaschine mit prüfender Höflichkeit, ich habe es selbst gesehen, es war ihm wirklich nichts abzumerken, und seine Unberührtheit Ungerührtheit jagte den Hass hinauf in nie errungene Gipfelhöhen, frenetisches Schreien hub an, und die geduckten Köpfe im Ringsum murmelten einander zu, da muss doch was sein, da muss doch was vorgefallen sein, sonst würde die sich nicht so aufregen.
Die Erregung wurde übrigens im Alter des Jungen zum gerichtsverwertbaren Beweismittel, heulende Frauen schilderten ihre Betroffenheit, ob welchen Vorfalls? es kam gar nicht darauf an, die Betroffenheit wurde zum Maß der Schuld des Täters, es hatte vordem Zeiten gegeben, da prätendierte das justizende Gesindel wenigstens, eine Verurteilung bedürfe einer objektiv nachweisbaren Schuld eines objektiv schuldhaften Verhaltens von Seiten des Täters, solche Voraussetzung wurde jetzt kassiert, es kam nicht mehr darauf an, was der Beschuldigte tatsächlich getan hatte, sondern nur noch auf den Schmerz, den das selbsternannte Opfer bekundete, und da die Menschtiere nicht hineinsehen können ineinander, wurde nicht eigentlich der Schmerz selbst zum Gradmesser der Tat, sondern vielmehr die Wirkmacht seiner Darbietung.
Echte Tränen! Schreie! Schwächeanfall im Zeugenstand!
Solchen Schmerz hat der mir zugefügt!
Ja, damit ist die Schuld des Täters ja wohl etabliert.
Da muss doch was vorgefallen sein! sonst würde die sich nicht so aufregen!
Und wenn das Schreien anhub, das Kreischen, urvertraut dem Jungen aus den Tagen der Pferdeschnauzigen, dann wusste er eben: Es ist mal wieder so weit, jetzt gibt es kein Halten mehr, das Vieh will den Krawall, will die öffentliche Szene, hat schon darauf hingearbeitet, bevor ich den Raum betrat, bevor ich überhaupt meine Existenz kundtun konnte, nichts zu machen, ich bin in die Falle getappt, sie war nicht zu sehen, die Falle, das ist ja der Sinn bei gestellten Fallen, die Beute soll ahnungslos hineintrampeln, und plötzlich knallt das Eisen um die Fesseln, schnappend, und der Schlag ist so zerschmetternd, dass die Beute nicht einmal Schmerz verspürt, nein, der Schmerz wird erst später kommen.
Später, und dann wird eine zusammengesunkene Gestalt auf der Verandaschwelle hocken, ihr kennt das.
Der Junge neigte dazu, sich selbst zu verabscheuen, und was er am meisten verabscheute an sich, im Rückblick, das war seine unbezwingliche Neigung, den Dingen und dem Geander noch eine Chance zu geben.
Und noch eine.
Und noch eine.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Abschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)