Pläne

Das Feuer im Herd ist fast niedergebrannt, der Rest von Fruchtwein muss verteilt werden. Er hat von seiner bedrängenden Süße verloren, er hat zu lange bei der Wärme gestanden, dafür ist er jetzt dick geworden, gefährlich dick, voll starker, einschläfernder Schwere, bringt die Becher, ihr Lieben, für einen letzten Schluck!

Reinhard stellt sich wieder an den Kessel und nimmt die Schöpfkelle zur Hand. Zuerst die Gäste. Die Gäste stecken noch bis über den Kopf in der Geschichte, Roger kann die Augen nicht von Gabriele lassen, und Grand Mère seufzt, „die Wege der Menschen!“ sagt sie … Aslan aber ist ernst und meint: „Nun haben wir, worüber wir lange nachdenken werden“, und Magdalena nickt dazu und blickt ihn an, mit grauen Augen, tiefen grauen Augen, es war Wahrheit in Gabrieles Geschichte, das fühlt sie, Wahrheit –  wie ein heller Herbstabend, blass und klar, und unergründlich voll der Dämmerungen. Inge, die hinter ihr steht, schlingt ihrer Mutter den Arm um den Hals und küsst sie. Wie viele Träume die Tage übrig haben!

Die dürre Tante und die eine Schwester und der Klient, der mit ihr zusammenlebt, sitzen auf einer Bank aneinandergereiht wie drei Amseln, die darauf warten, dass der Abend kommt, und sind zufrieden; eine neue Geschichte zu hören ist schön, schöner aber, eine altbekannte.

Raben sitzt starr da, den kalten Becher in der Hand, in einen Abgrund von Ernst versunken; sein Auge ist glasig, der Blick weit fort, auf einem fernen Schneegipfel, und er fühlt, etwas erschaut zu haben, in seinem Innern, wenn er nur wüsste … er hört nicht, dass seine Frau auf ihn einspricht, aus ihrer Leere zwischen Wintersonnenwechsel und Wintersonnenwechsel, sie redet und redet, er aber hört nicht zu.

Die schwarzhaarige Gisela springt umher, sie lacht und schwätzt mit diesem und mit jenem, ohne eine Antwort abzuwarten, dann hebt sie Anjela hoch und nimmt sie auf den Arm und drückt sie an sich, Anjela hat überwache, gerötete Augen und schaut abwesend, und Gisela küsst sie und fragt: „Hast du auch gut zugehört, mein Schatz, hm, hat es dir gefallen, meine Süße, hat es dir gefallen?“, und Anjela sagt ganz kurz und hell: „Ja“, und schaut unverwandt auf Gabriele, alle haben ihr zugehört, sie war der Mittelpunkt, der Mittelpunkt, der Mittelpunkt … aber dann kommt Dagobert und zupft Gisela töricht am Kleid und lacht krähend, um Anjelas Aufmerksamkeit zu erregen.

Die übriggebliebene Schwester, die, die an den Klienten draußen auf der Weide denkt, hat ein unruhiges Glitzern in den Augen, sie kann nicht stillsitzen, sie rutscht von einer Bank auf die andere, dann läuft sie umher, redet mit dem und jenem und setzt sich nur hin, um gleich wieder aufzuspringen. Leichter als hat es der hinternkneifende Großvater, der lacht und nickt und erklärt immer wieder: „Eine lehrreiche Geschichte … lehrreich!“, und er versichert es allen, und er hatte doch so gut geschlafen, als er erwachte, wusste er gar nicht, wo er sich befand …

Waldemar taumelt irgendwo umher zwischen den Worten und stolpert und sieht nicht richtig, wo er hintritt, ein Schrecken hat ihn gefasst, eine Schneegrotte sieht er vor sich, mit einer hockenden Leiche, und die Leiche grinst, eine süßlich faule Faszination geht aus von dem Bild, er kann den Blick nicht abwenden … und er erinnert sich eines Traums, erst neulich hat er ihn geträumt, ein gewaltiges Ungeheuer ist ihm auf den Fersen, nichts wie weg, es will mich fressen, lauft, ihr Beine, aber die Beine rühren sich nicht, etwas wie eine bleierne Masse umfängt ihn, er rudert mit den Armen und strengt sich an, aber er kommt keinen Schritt vorwärts, und das Ungeheuer kommt näher und näher, ganz fleischern ist es, nackte Haut, und Sehnen und Röhren, grün und schillernd rot, adrig pulsierend, er muss doch weg, weg, gleich ist es über ihm, es wird ihn verschlingen – und da wacht er auf, mit einem erstickten Keuchen, einem Quietschen, als wäre er eine kleine Maus, über der die Falle zuschnappt, und er schwitzt … er schaut sich um und drängt sich heimlich näher an Grand Mère, so klein der Lichthof um die Fackeln, und das Gewölbe so schwarz, so hoch, so finster!

Gabriele ist ein bisschen erschöpft vom vielen Reden, sie ist sonst nicht so fleißig mit den Worten, sie weiß gar nicht, was über sie gekommen ist … sie lächelt und blickt umher vom einen zum anderen und sieht, dass sich Gesichter über sie beugen mit redenden Lippen, sie kann nicht verstehen, was sie sagen, doch das macht nichts, sie lächelt zurück und nippt an dem Becher, den man ihr nachgefüllt hat.

Und die Große Halle, im glosenden Dämmer der Fackeln, ist angefüllt mit Murmeln und Lachen und Erzählen, ein jedes Wort gebiert einen kleinen Hall, und der Hall schlendert durchs Gewölbe, trifft sich kurz mit einem anderen, geht wieder seiner Wege.

Die Kaufmannsfamilie hockt zusammen und bespricht sich.

Reinhard tritt hinzu. Er setzt sich Aslan gegenüber und lächelt ihn an.

Aslan sagt: „Nun rede, Bruder Reinhard. Was ists mit dem Kinde?“

„Ja“, sagt Inge und nickt, „das wollen wir wissen“, und Roger murmelt zustimmend. Magdalena schaut gespannt.

Reinhard streckt die Beine von sich, schaut dazwischen zu Boden, und sucht nach den Worten, die sich dort verbergen mögen.

„Also“, sagt er, „Bruder Aslan, und ihr anderen alle, das Kind Eluard, es war ja nun vaterlos und mutterlos, nicht wahr, es stand ganz allein in der Welt, wie Gabriele erzählt hat, ihr habt es gehört. Der Maître Eluard hatte aber vor seinem Tode noch erklärt, dass er eine Schwester habe in England, eine Schwester, ja, und die heiße Galeide, und sei die Frau eines Maître, wieder eines Maître. Als nun die Mutter von dem kleinen Eluard gestorben war, da gedachten die Menschen wieder dieser Worte, und sie sagten sich, es sei gut, das Kind seinen Verwandten zuzuführen, denn es war doch immerhin der Sohn eines Maître! Denkt nicht, dass es ihnen leicht fiel, das Kind dahinzugeben, oh nein, sie hatten ihn so lieb gewonnen, den Jungen, doch sie dachten, es wäre nicht recht, ihn zu behalten, denn er soll doch aufwachsen im Land, wo sein Vater herkam. Also, Bruder Aslan, und ihr anderen alle, sie beschlossen, das Kind müsse nach England gebracht werden, zu seiner Tante.“

Der schwere Mann hält inne und überlegt einen Augenblick, dann sagt er: „Es heißt übrigens, Galeide soll die gar schönste Frau sein, die jemals auf Vautrins Erde ersehen wurde.“

Gabriele, die sich etwas erholt hat, wirft ein: „Ich glaube, das sagen die Leute, weil sie meinen, sie müsse dem kleinen Eluard ähnlich sehen. Er ist ein so schönes Kind!“

Aslan lässt dies dahingestellt und fragt: „Warum hat man das Kind nicht einfach nach Avignon geschickt, zum alten Rocher?“

Reinhard schaut dumm, aber Gabriele rettet ihn, sie mischt sich wieder ein und sagt: „Es heißt, der Maître Rocher habe von dem Kleinen gar nichts erfahren, der Kleine war ja noch nicht geboren, als sein Vater Eluard starb. Als Rocher dann endlich Nachricht erhielt, hatten die Parenten das Kind schon längst auf den Weg geschickt, sicher wärs besser gewesen, es dem Maître Rocher zu übergeben, aber es wird auch so ankommen in England.“

Inge fragt: „Ist es denn gewiss das Kind des Maître?“

„Oh ja“, erwidert Gabriele. „Die Ähnlichkeit bezeuge es, sagt man, und vor allem soll der Maître sich zu dem Kind bekannt haben, als es noch im Schoß der Mutter ruhte – manche sagen sogar, er habe das Mädchen heiraten und mit sich nach England nehmen wollen.“

„Nun also“, hebt Reinhard wieder an, „man schickte das Kind auf den Weg, ach, Bruder Aslan, und ihr anderen alle, das war natürlich nicht einfach, ihr könnt es euch denken, denn der Weg ist ja so weit, so entsetzlich weit … zunächst brachten die guten Menschen das Kind zu Verwandten, ein Stück weiter im Nordwesten, dort blieb es ein Zeit und wurde gut aufgenommen und gepflegt, ihr könnt es euch denken. Und seht, dann kamen Kaufleute, günstig gesinnt, die nahmen es wieder mit, ein Stück, und sorgten seiner, und dort, wo sie eine andere Richtung einschlugen, dort ließen sie das Kind bei guten Menschen in Obhut. Und immer wanderte seine Geschichte mit ihm, von Mund zu Mund. Und, was soll ich euch sagen … so kam das Kind Eluard in unsere Gegend, fünf Jahre und ein halbes zählt es nun, so alt ist es wie euer Kind Waldemar, an dem sich meine Augen freuen … und es wohnt gerade zwei Tagesreisen von hier, Verwandte sind es von uns, die Schwester meiner Frau nämlich, mit ihrer Familie … und die haben das Kind Eluard aufgenommen und nähren und pflegen es und harren einer Gelegenheit, dass es weiter nach Westen gebracht werden könne, seiner Heimat zu. Und seht ihr, Bruder Aslan, und ihr anderen alle, das ist unser Wunsch und unsere Bitte, dass ihr das Kind an euch nehmt und es aufnehmt in eure Mitte und euer Herz ihm zuwendet, dass ihr es zurückbringt in seine Heimat, da ihr doch nach England fahrt, der stolzen Insel, der reichen, der fruchtbaren … so, das war es, Bruder Aslan, und ihr anderen alle, jetzt wisst ihr es, nicht wahr, jetzt habe ich euch alles erzählt und es euch gesagt, jetzt habt ihr es gehört, und, ja …“

Und Reinhard schweigt und schaut, um ihn herum erhebt sich beifälliges Gemurmel, man wartet mit Spannung, was Aslan erwidern wird!

Die Kaufmannsfamilie sitzt starr. Sie werden in eine Geschichte eingehen! In eine richtige Geschichte! Aslan schaut Reinhard an, überlegt, schaut Magdalena an und die übrigen, steht auf, nimmt Reinhards Hand und seinen ganzen Arm und drückt und schüttelt und sagt nichts als:

„Wir machen‘s.“

Tumult! Aufruhr! Laute Ausrufe der Zustimmung, Begeisterung, alle drängen herbei, schütteln den Kaufleuten die Hände, umarmen sie, Waldemar wird umarmt, Reinhard strahlt und schlägt die Hände zusammen und ruft ein übers andere Mal: „Ich wusste es, ich wusste es ja!“ und man geht und sagt es dem hinternkneifenden Großvater, „Großvater, hör doch, sie werden das Kind mit sich nehmen, in seine Heimat“, und der Großvater lacht und nickt, oh ja, das hat er verstanden, wie, sie werden das Kind Eluard mit sich nehmen? wirklich? und der Großvater springt auf und drängt sich durch zu der Kaufmannsfamilie und gratuliert Aslan und klopft ihm auf die Schulter, die Geschichte wird weitergehen, das ist es, die Geschichte wird weitergehen …

Und dann löst sich alles auf. Die Herzen sind angefüllt und die Köpfe mit der Geschichte und den Neuigkeiten des Tages, und jeder hat zu denken und zu erwägen, oder auch nur nachzuspüren dem, was sich in ihm regt … die Geschichte wächst fort … so viele Gedanken, die sich anschließen …

Die Fackeln brennen herunter, eine nach der anderen, im Herd bullert und röhrt es noch ein wenig, wie ganz von ferne, und der Kessel ist leer.

„Aufräumen“, sagt Gabriele, „aufräumen werden wir morgen.“

Das ist es. Morgen. Und dazwischen, da wird Schlaf sein, ruhiger Schlaf, und Träume.

Was ist noch abzumachen? Das ist nicht schwer. Morgen, ganz früh, werden die Kaufleute aufbrechen, im Dämmer, und Gabriele wird mit ihnen fahren, wird sie zu dem Dorf ihrer Schwester führen, dass sies nicht verfehlen, und dass sie die Erklärungen geben kann, und das Kind aufgehoben sehen in guten Händen.

Nun sagt gute Nacht.

Man umarmt sich und küsst sich und dankt für den Abend und das Zusammensein, Vautrin sei mit euch, immerdar, und man ergreift die Fackelreste, die fast erloschenen, um eine wenig Licht zu haben in der Dunkelheit, und geht hinaus, durchs schwere Tor – schaut die Sterne, wie hell die Nacht!

Eine kleine Zeit noch steht die murmelnde und lachende Gruppe vor der Großen Halle, aber leise, ganz leise, um die Nacht nicht zu stören, und nicht lange, denn die Augen sind schon so schwer, so schlafschwer, und dann wandern die Fackelpünktchen zu drei verschiedenen Häusern, gedämpfte Rufe noch, dann klappen Türen, hinter wenigen Fenstern wird Licht entzündet –

dann ist Stille.

Eins nach dem anderen erlöschen die Lichter; von draußen, vom Wald ruft ein Uhu, und aus einem der unbewohnten Gemäuer antwortet ihm sein Gefährte.

Die Große Halle, die Häuser stehen schwarz und still, unter den Sternen. Die Mondsichel spiegelt sich im Teich. Über die Straße läuft der Dachs, die schwarze Schnauze am Boden, und schnüffelt und schnieft.

Reinhards Dorf schläft ein.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 08.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)