Reinhard schwankt heran, er nickt und zwinkert, nun legt er listig den Finger an die Nase, man sieht deutlich, das ist eine Geste, die er jemandem abgeschaut hat, vielleicht einem Kiepenhändler, sie passt nicht zu ihm.
„Erzähl‘s ihnen!“ brüllt der hinternkneifende Großvater; er sitzt noch immer am Boden, gegen seinen Pfeiler gelehnt und die Beine von sich gestreckt.
„Es ist nämlich so“, mischt sich die schwarzhaarige Gisela ein, „es geht um das Kind eines Maître.“
Reinhard bleibt stehen, den Finger an der Nase, alle Luft ist aus ihm entwichen, Gisela hat den Stöpsel gezogen.
„Ja“, stimmt Gabriele eifrig zu und drückt Magdalenas Arm. „Denkt euch nur, das Kind eines Maître … es heißt Eluard, ist ein Junge, so hübsch …“
„Erzählt doch der Reihe nach“, empfiehlt Grand Mère.
„Ist nicht viel zu erzählen“, meint Raben.
Unter dem Einfluss des Brombeerweins erschaut Rabens Frau die Dinge, sie erkennt nicht mehr nur Frühling und Herbst, nein, sie sieht dahinter, auf der einen Seite erspäht sie die Schneeschmelze, auf der anderen den ersten Raureif. Ein wenig Anstrengung noch, und sie wird beider Wintersonnenwenden habhaft werden.
„Erzähl’s ihnen!“ brüllt der hinternkneifende Großvater.
„Es ist so“, beginnt Gabriele. „Ein fremder Maître, … ein Maître aus England … es fing an mit dem, was die Maîtres einen – nun, einen Glauberfall nennen.“
Die Kaufleute rutschen unbehaglich auf ihren Sitzen, und ringsum ist auf einmal Schweigen, man lässt Gabriele reden. Reinhard steht noch immer mit dem Finger an der Nase.
„Ein Glauberfall also“, sagt Gabriele fester. „Weit unten im Süden, wo sich gewaltige Berge gegen den Himmel heben, und die Täler einsam sind, so einsam, dass die Menschen nicht mehr wissen voneinander und wohl meinen, die letzten zu sein auf der Welt und die einzigen.“
Also auch die ersten.
Gabriele fährt fort: „In einem Tal unter dem Schnee also – das war im Winter abgeschnitten von den anderen Tälern, so findet mans dort häufig – dort gabs einen reichen Hof, wohl fünfzig Menschen soll der beherbergt haben und mehr … nun, dort geschahs eben. Ein Wanderer kam … also, ich weiß nichts Genaues, man hört dies und das, und Vautrin möge uns beschützen, Blut floss. Kampf. Viele Gräuel. Sagte der Wanderer, er sei gesandt von Vautrin selbst. Das Ende sei nahe. Das Ende der Welt.“
Sie schweigt, und die letzten Worte flattern hinauf in die Gewölbe, verstecken sich in dem Teich aus Dunkelheit, der dort schwimmt.
„Niemals endet Vautrins Welt“, sagt Aslan ernst.
„Ja“, nickt Gabriele. „Aber diese Siedler, unter dem Schnee, sie hörten die Worte und beugten sich vor dem Wanderer. Nicht nur sie. Gab Nachbarhöfe, auch dort öffneten sich die Ohren mit Gier.“
Die schwarzhaarige Gisela zupft Reinhard am Ärmel und bringt ihn dazu, sich zu setzen und seine Nase loszulassen.
„Sie … das Wort erfriert, wenn mans sagen soll. Sie lauschten dem Wanderer, und er wusste den Tag und die Stunde, da Vautrin würde hinwegnehmen die Welt. Und alle Menschen würden sterben, nur die Erwählten nicht, die seinem Geheiß folgten.“
Magdalena zieht die Schultern zusammen, als ob sie fröre; Gabriele hält unter dem Erzählen noch immer ihren Arm fest.
„Sie bauen ein Schiff – “
„Im Gebirge?“ fragt Roger verblüfft.
„Ja, im Gebirge“, nickt Gabriele. „Sie bauen ein Schiff und schleppen es hinauf auf einen Gipfel, auf einen Schneegipfel, dort hinauf schleppen sies, auf die höchste Spitze.“
Anjelas Vater mischt sich ein. „Ich glaube“, sagt er, „sie haben nur die Rohteile hinaufgeschleppt, und sie erst oben zusammengesetzt.“
Murmeln wird laut, einige stimmen zu, andere zweifeln.
„Das mag wohl sein“, sagt Gabriele. „Es muss ein großes Schiff gewesen sein. Jedenfalls, zum Schluss lag es oben auf dem Gipfel, fest und seetüchtig.“
„Du musst noch das mit der Ernte erzählen“, wirft die schwarzhaarige Gisela ein.
„Richtig“, sagt Gabriele. „Sie waren alle so überzeugt von dem was der Wanderer ihnen sagte – dass also das Ende der Welt käme -, dass sie nichts mehr taten an Haus und Hof … sie versorgten das Vieh nicht mehr, sie bereiteten die Aussaat nicht vor, sie verbrauchten all ihre Vorräte in den letzten Tagen und Wochen, fraßen sich rund, es heißt sogar, sie hätten ihr Saatgetreide in den Ofen geworfen … denn es wurde ihnen gesagt, mit solchem Handeln bezeugten sie ihr Vertrauen in Vautrin, und Vautrin würde ihnen alles überflüssig wiedergeben, nur ihnen, wohlgemerkt, denn sie seien die Erwählten, alle anderen Menschen auf der Welt aber würden untergehen, und nicht nur die Menschen, sondern die Tiere auch und die Pflanzen, alles würde vernichtet in einer Flut, die die höchsten Gipfel der höchsten Berge erreichen sollte, und hernach würde Vautrin eine neue Welt schaffen für seine Erwählten, eine Welt in Überfluss und Reichtum und Wärme …“
Die Kaufleute lauschten mit Spannung.
„Es kam also der erwartete Tag, und alle stiegen sie hinauf auf den Gipfel des Berges und setzten sich in das Schiff … sie ergriffen die Ruder … sie warteten … warteten … es geschah nichts. Sie warteten wohl einen ganzen Tag über den angekündigten Termin hinaus. Dann brachten sie den Wanderer um. Sie hängten ihn auf … an dem Mastbaum des Schiffes.“
Schweigen. Der Herd glost, und der Großvater schnarcht.
„Als sie ins Tal hinunterstiegen“, fährt Gabriele fort, „da fanden sie ihre Häuser, wie sie verlassen hatten, die Vorräte verwüstet, das Vieh tot oder verstreut, die Äcker unbestellt. Die Dächer abgedeckt, denn sie hatten das Holz ja für das Schiff verbraucht.“
„Geschieht ihnen recht“, entfährt es Inge.
Raben murmelt einen dumpfen Zustimmungslaut, und seine Frau stöbert beidseitig in dichtem Schneetreiben.
„Ich weiß nicht“, sagt Gabriele. „Sie tun mit eigentlich leid …es kam nämlich noch schlimmer. Man entdeckte, dass die Bewohner des einen der Häuser vorsichtig gewesen waren – sie hatten Vorräte auf die Seite gebracht, für alle Fälle … anstatt nun froh zu sein um den glücklichen Umstand, stand einer auf und erklärte, dieser Zweifel sei die Ursache, dass Vautrin sich abgewendet habe … alles wär so gekommen, wie der Wanderer gesagt hätte, hätten ihm nur alle gehorcht und vertraut, restlos vertraut, ihre Vorräte vernichtet und so weiter … sie stiegen wieder hinauf zum Schiff, nahmen den Leichnam des Wanderers herunter, brachten ihn zum Haupthaus, setzten ihn dort auf einen Lehnstuhl und verehrten ihn als ihren Herrscher.“
„Vautrin sei uns gnädig!“ entfährt es Grand Mère.
Gabriele nickt. „Vergingen drei Tage, da machten die Betörten sich auf und überfielen das Haus der Abtrünnigen – so nannten sie die, die sich Vorräte zurückbehalten hatten – und brachten alle um, wohl zehn oder zwölf Menschen, sie töteten alle, und – und – sie trugen die Leichen vor ihren toten Meister und legten sie zu seinen Füßen, auf dass er sähe, dass sie wieder zum Gehorsam zurückgefunden hätten.“
Inge hält sich an Rogers Arm fest.
„Es heißt allgemein, sie hätten sich über den Winter von den Leichen der Erschlagenen ernährt, und vom nächsten Frühjahr an trieben sies umso ärger. Mit dem ersten Tauwetter brachten sie ihren toten Meister bergan und schufen ihm eine Grotte im Schnee, auf dass er nicht verwese. Der aber, der zuerst die Meinung aufgebracht hatte von der Schuld der Abtrünnigen, der hatte sich zum Stellvertreter des Meisters aufgeschwungen und herrschte unumschränkt über die Schar, er sagte, er empfinge seine Befehle vom Meister im Traum. Täglich kletterten sie zur Leiche hinauf in den Schnee und brachten ihr ein Opfer. Der neue Herr, der Stellvertreter, erfand auch einen neuen Termin für den Weltuntergang, aber erst in weiter Ferne, und er sagte auch, alles hinge davon ab, wie gehorsam sie seien den Befehlen des Meisters – also seinen Befehlen.“
Aslan lacht trocken, ohne das Gesicht zu verziehen.
„Mit der Zeit wurde die Sache ruchbar, die Kiepenhändler transportierten die Kunde in wohnlichere Gebiete, und sie kam endlich den Maîtres zu Ohren, in einem Ort, der Avignon heißt, wenn ich richtig gehört habe.“
„Avignon“, sagt Aslan lächelnd. „Ja. Dort lebt nur ein Maître, der heißt Rocher.“
„Aber das ist wahr!“ ruft Gabriele. „Woher weißt du?“
Aslan, er war Kiepenhändler, wo war er nicht gewesen … und der alte Maître Rocher lebt schon seit Menschengedenken im sonnigen Avignon, niemand kann sich entsinnen, dass er je jung gewesen sei …
„Weithin berühmt ist der Maître Rocher“, erklärt Aslan. „Er heilt die Bresthaften, man bringt sie zu ihm aus allen Teilen Europas.“
Hierbei berührt er mit einer bezeichnenden Geste seine Stirn, um anzudeuten, um welche Art von Krankheit der Maître Rocher sich heilend verdient mache.
„Ja“, sagt Gabriele, erfreut, ihre Geschichte so schön bestätigt zu finden. „Als der Maître Rocher die schreckliche Kunde erhielt, da war ein Freund bei ihm, ein Kollege … ein Maître aus England, noch jung, der sich in der Kunst vervollkommnen wollte, nehme ich an …“
Sie schaut etwas unsicher zu Aslan, ob der etwas zu sagen wisse, aber da er schweigt, nimmt sie ihre Erzählung wieder auf.
„Dieser englische Maître hieß Eluard, ja, und er machte sich auf den Weg, sich um die Sache zu kümmern, wie es die Pflicht der Maîtres ist. Er muss ein mutiger Mann gewesen sein, denn er brach ganz allein auf, der Maître Rocher war nicht abkömmlich, musste ja seine Kranken versorgen, er war auch schon zu alt für eine beschwerliche Reise.“
Sie unterbricht sich und schaut Aslan an. „Wenn du schon in Avignon warst, Bruder Aslan“, sagt sie, „so kannst du uns sicher erzählen, wie das Land dort ist, ich hab es nämlich nicht verstanden, so wie mans mir berichtet hat – “
„Avignon liegt in einem weiten, fruchtbaren Flusstal“, erklärt der Kaufherr. „Nahe dem Meer. An Tagen mit Südwind riecht man die Salzluft. Der Fluss verzweigt sich schon zum Delta. So warm ist es dort, dass der Wein rot wird wie Ofenglut, oh ja, und Ölbäume gedeihen ohne Zahl, das sind Bäume, aus deren Früchten presst man das allerfeinste Öl, klar ist es wie Wasser … die Mauern der Häuser sind weiß, damit es im Innern angenehm kühl sei, zu Mittag steht die Sonne über der Stadt, ist alles voll von loderndem Gold. Gegen Nordosten hin aber steigen die Berge in den Himmel, sind anzuschauen gleich einer Riesentreppe, ein Gipfel türmt sich über den anderen, und in ferner Höhe leuchten die Schneezinnen, dort herrscht ewiges Eis. Unter denen mögen wohl die Täler liegen, von denen du redest, ungangbar sind die Wege und gefährlich, nur wenige Kiepenhändler kennen ihre Geheimnisse, die geben sie nicht preis.“
Mit fernesüchtigem Blick haben die Zuhörer gelauscht; nun, da Aslan schweigt, nimmt Gabriele wieder das Wort.
„Sei bedankt“, sagt sie, „schön hast du das erklärt, dass man sichs vorstellen kann. So kamen also die Kiepenhändler vom Gebirge herab, und brachten Nachricht dem Maître Rocher, und sein Gast, der Maître Eluard, machte sich auf, die Sache auszuforschen und die Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen, wie es den Geboten Vautrins entspricht. Von Kiepenhändlern ließ er sich führen; und berichten. Er muss ein kluger Mann gewesen sein, der Maître Eluard, wohl gar listig. Er ging nicht geradewegs hin zu den Betörten, sondern tat sich erst um bei den Nachbarn und fragte und forschte. Was er hörte, ließ ihn einsehen, dass die Glauber freiwillig nicht würden lassen von ihrem Wahn; Gewalt aber wollte er auch nicht anwenden, wenngleich die Nachbarn ihm ihre Arme schon hergeliehen hätten zu dem Zweck. Er tat etwas anderes. Ho, er war schlau, der Maître Eluard.“
Die Häusler lauschten ebenso gebannt wie die Kaufleute, obgleich sie die Geschichte schon kannten.
„Er verständigte sich mit den Nachbarn zu einem Betrug – bei dem der Täter das Opfer sein sollte – und die Opfer die Täter. Merkt auf. Eluard lieh sich von einem Kiepenhändler die Ausrüstung und alles Zubehör und begab sich stracks zu den Narren, handelte ein wenig, gab guten Preis, schmeichelte sich ein. Oh, er beobachtete seinen Mann genau, um den Stellvertreter gings, den selbsternannten, der im Traum die Weisungen empfing von der Leiche oben im Schnee, und der sich zum Hausherrn aufgeschwungen hatte. Nichts bewegte den als die Gier. Und Eluard gewann sein Vertrauen, unter vier Augen. Nachts, bei Kerzenschein, machte er ihm einen ungeheuren Vorschlag. Willst du, so fragte er, dein ganzes Leben versauern in diesem dürftigen Tal? Ist ja schön, Herrscher zu sein, wie, aber es gibt auch andere Länder, die auf dich warten. Und dann sagte er Folgendes zu dem Lauschenden, dem Arglosen: Du weißt, viel kommen wir herum, wir Kiepenhändler, vieles hören wir. So weiß ich für gewiss, dass ein Maître aus Avignon unterwegs ist hierher, um das Nest auszuräuchern. Willst du darauf warten, dass er kommt mit den Nachbarn und starken Waffen und euch aushebt, und zum Schluss dir einen warmen Stuhl bereitet auf einem Berg von brennendem Holz? Wie? Das willst du nicht. Ich aber sage dir, die Dummen werden nicht alle, sind überall auf der Welt. So oft kannst du wiederholen das Ding, wie du nur willst – wenn, ja wenn du weißt, wann rechtzeitig an Ende zu denken ist und Flucht. Von vergoldeter Flucht rede ich, mein Bester. Von deinen Nachbarn nämlich hab ich gehört, dass sie wohl willens wären, das Vieh vom Hof zu kaufen und die Vorräte und die Truhen und Möbel und Stühle und das Geschirr und was es sonst noch gibt, und weißt du, warum sies wollen? Weil sie denken, dass sies nur jetzt bekommen können, denn wenn der Maître einmal da ist, wird er einen solchen Schacher nicht dulden. Jetzt aber, jetzt ist der Zeitpunkt günstig, und das Verfahren einfach, so einfach, ho, kinderleicht! Du sagst deinen Leuten, das Ende ist nahe, hehe, dir glauben sie das. Du sagst ihnen, sie sollen alles zurücklassen, wies ist, grad das wär ein hoher Beweis ihres Vertrauens in Vautrin, dass sie alles der Flut überlassen, und nichts mitnehmen und nichts zerstören. Während sie aber – das sag ihnen – während sie aber hinaufwandern zum Schiff
denn das ruhte noch immer auf dem Gipfel des Berges
bleibst du unten am Hof, das erklärst du ihnen damit, dass du ihre Treue prüfen wolltest, so hätte es der tote Meister befohlen, und einen ganzen Tag sollten sie oben im Schiff auf dich warten; und täten sie das treulich, so würdest du kommen, und Vautrin würde schicken seine Flut, und ihr alle würdet entgegenschwimmen einer überschwänglichen Zukunft.
So sagte der Maître Eluard zu dem Betrüger, und er sagte weiter:
Nun aber pass auf. Kaum sind die Narren um die Berglehne verschwunden und außer Sicht, da kommen die Nachbarn herbei, sie haben schon gewartet. Sie kommen mit Gespannen und Schlitten und Muskelkraft, alles tragen sie davon, was sie haben wollen, kein Krümchen bleibt mehr im leeren Haus, hehe. Nun merk aber auf das Beste: anvertraut haben mir deine Nachbarn, dass sie willens sind, zu zahlen in barer Münze, in Gold und Silber! Was einfacher, als einzupacken den Gewinn und zu flüchten wie der Wind? Niemals finden uns die Betrogenen wieder, die bleiben sitzen da oben auf ihrem Gipfel, und bis sie den weiten Weg heruntergekommen sind, vergehen zwei Tage und mehr, dann müssen sie sich erst einmal fassen, Rats pflegen, ach, bis die zu einem Schluss kommen, sind wir über alle Berge. Die Nachbarn aber werden sagen, der Kauf war rechtens, war getätigt mit dir als dem Hausherrn – und das bist du doch, oder?
Was aber, fragte der Betrüger, wenn der Maître kommt?
Da stieß ihn der falsche Kiepenhändler in die Seite und erwiderte: Die Nachbarn haben schon angedeutet, dass sie die Sache noch vor seiner Ankunft bereinigen wollen, versteh mich, so bereinigen, dass kein Mund mehr wider dich zeugen kann, hehe, und wir beide, wir ziehen davon … Bester! Goldene Berge liegen vor uns! Wir können das Ding drehen, so oft wir wollen, voll von Dummen ist Vautrins Welt!
So betört war der Betrüger, dass er annahm den Vorschlag des falschen Kiepenhändlers, am nächsten Tag schon eilte er zu den Nachbarn und klopfte an, ob es eine Richtigkeit habe mit dem Vorschlag …
Vier Tage war er fort, denn die Höfe liegen weit auseinander in diesen Tälern; und während seiner Abwesenheit wirkte der Maître Eluard seinen größten Streich. Am Abend, als die Glauber sich versammelt hatten zum Essen und also alle beieinander waren – da trat er unter sie, in seinem Maîtregewand, nur in Begleitung des Kiepenhändlers, von dem er Kiepe und Waren und Kleider ausgeliehen hatte … trat unter sie und erklärte ihnen in knappen und starken Worten, was zwischen ihm und ihrem betrügerischen Herrn geredet worden sei – und dass alles nur eine Falle sei, abgesprochen mit den Nachbarn. In Sicherheit wiegen sollten sie den Betrüger, abziehen, wie er es ihnen befehlen werde, in Wahrheit aber sich verbergen auf kürzester Strecke, dann könnten sie sehen aus dem Hinterhalt mit eigenen Augen, wie die Nachbarn einsammeln würden zum Schein all ihr Gut, und wie der Betrüger Gold und Silber in Empfang nehmen würde dafür, um sich alsogleich aus dem Staub zu machen. Und dann würden sie verstehen, was es auf sich habe mit ihrem Geglaub, und sie würden in sich gehen und wieder gute Menschen werden, die die nährende Erde bewohnen nach Vautrins Geboten.
Er sagte ihnen wohl auch, der Maître Eluard, was geschehen würde, wenn sie nicht auf seinen Vorschlag eingingen – er würde wiederkehren mit den Nachbarn, schwerbewaffnet, und das Nest würde ausgeräuchert, dem Erdboden gleichgemacht, als Gefangene fortgeführt die Bewohner und an einen Ort gebracht, wo sie unter harter Aufsicht würden leben müssen und unfrei, auf dass ihr Wahn nicht weiter anstecke die Menschen.
Er musste wohl nicht viel reden. Sein plötzliches Auftreten, sein Gewand, seine energische Haltung, die Zeugenschaft schließlich des Kiepenhändlers, den sie alle kannten – das wirkte ihnen als Erleuchtung. Sie rafften sich zusammen und versprachen dem Maître Gehorsam.
Seltsam müssen die nächsten Tage gewesen sein! Jeder betrog jeden. Die Nachbarn den Betrüger, der Betrüger seine eigenen Parenten, die Parenten den Betrüger. Jeder ließ jeden in falschem Glauben.
Es geschah alles wie geplant. Schon Abend seiner Heimkunft brach der Betrüger heraus mit der Kunde, dass ihm unterwegs eine Vision geworden sei vom Untergang – diesmal sei‘s ernst – das Ende stehe vor der Tür – geht alle wieder hinauf zu dem Schiff, schnell, die Flut kommt!
Und er befahl alles so, wie ers mit dem falschen Kiepenhändler abgemacht hatte: wohlerhalten sollte das Haus zurückbleiben, unangetastet die Vorräte, zurückbleiben auch sollte er selber, der Betrüger, das Vertrauen zu prüfen der Vorangeschickten – ja, alles befahl er so, und alles geschah so.
Am bestimmten Tage, im allerersten Morgengrauen, zogen die Häusler los … sie zogen nicht weit, verbargen sich hangauf zwischen den Felsen und Bäumen, derart, dass sie wohl sehen konnten ins Tal, nicht aber selbst gesehen werden …
Und sie schauten mit wachsender Wut, wie die Nachbarn herbeirückten, wie Sack um Sack der Vorräte, wie Kuh um Kuh, wie Möbelstück um Möbelstück herausgeschafft wurde aus dem Haus und verladen, und sie sahen schließlich Gold blitzen in der Sonne, als der Betrüger die Hand ausstreckte.
Da fiel ihnen ihre Narretei wie Zentnergewicht auf die Seele, und sie sprangen heraus aus ihren Verstecken, da gab kein Halten und kein Besänftigen, mit bloßen Händen rissen sie den Betrüger in Stücke, der Maître Eluard konntes nicht verhindern, und wollte es wohl auch nicht.
Die Nachbarn gaben alles Gut wieder zurück, und weinten mit den Betrogenen über die Bitterkeit, die ihnen zugefügt worden war, und es wurde Versöhnung und neuer Anfang.
Ach, nicht einfach war das. Wie bleich und grau erschien den Enttäuschten Vautrins Welt! Hatten sie doch auf einen neuen Anfang gehofft, auf ungeahnte Dinge. Nun sollte alles weitergehen in alter Dürftigkeit. Viele wollten nicht bleiben, wanderten fort. Andere aber gedachten, es noch einmal zu wagen mit der alten Erde, denn wankellos ist Vautrins Gnade.
Der Maître Eluard blieb bei ihnen und half ihnen, Leben zu zimmern aus den Trümmern, daran sieht man, dass er ein guter Mensch gewesen sein muss, der gelehrte Herr, denn er musste da oben in den Bergen aller Annehmlichkeiten entraten, die er sonst genossen hatte in den schönen Städten Vautrins.
Und zum Schluss büßte er seine Güte mit dem Leben, ja, er starb, kaum dass ein halbes Jahr um war. Ein Fieber betraf ihn, er war wohl dem rauen Klima nicht gewachsen, er sank dahin, noch eh der zweite Tag seiner Krankheit zu Ende ging.
So liegt er nun begraben, wo er Gutes gewirkt hatte.
Dass er aber vielleicht nicht nur aus Mitleid in den Bergen geblieben war, das geht daraus hervor, dass ein halbes Jahr nach seinem Tod eines der Mädchen, die im Haus lebten, mit einem gesunden kleinen Jungen niederkam, der war Eluards Sohn.
Auch das Mädchen starb bald, der Junge hatte eben sein zweites Jahr vollendet. Man sagt, er sähe dem Maître Eluard wie aus dem Gesicht geschnitten, und er ist nach seinem Vater Eluard genannt.
Die Siedlung in den Bergen aber lebte fortan in Frieden und Eintracht mit den Nachbarn, und die Menschen nähren sich aus der Erde und gehorchen Vautrins Geboten, und Vautrin hält den Wahn fort von ihren Herzen.“
Gabriele schweigt, und die Zuhörer seufzen, das ist ja eine Geschichte gewesen, eine richtige Geschichte!
„Erzähl’s ihnen!“ brüllt der hinternkneifende Großvater; denn er ist aufgewacht.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)