Alte Gewohnheiten sterben widerwillig. Noch im Alter des Jungen war in den öffentlichen Geländen jederzeit mit randalierenden Vetteln zu rechnen, die keiften und suchten Streit, immer mit dem triumphierend herausfordernden Leuchten in den Augen: Ich bin eine Frau, ich bin unberührbar. Was willst du? Komm doch her! Ich soll den Mund halten? Und wenn ich nicht den Mund halte, was dann? He? Was dann? Na komm doch? Was dann?
Sie wussten, sie konnten auf dem Marktplatz, sie konnten im Café, sie konnten an der Bushaltestelle sie konnten in den Schauforen in den Zirkusveranstaltungen der Glotzmaschinen randalieren und pöbeln, soviel sie wollten, es konnte ihnen nichts passieren. Sie waren Frauen. Sie konnten maßregelnd herumschreien und junge Leute bevormunden, es würde ihnen nichts passieren. Sie konnten höhnisch kritisieren, laut und hörbar Bemerkungen über Passanten machen, gellende Hohnlache aufschlagen über diese Vorübergehende über jenen, es passierte ihnen nichts. Hätte ein Mann sich so aufgeführt, nach kurzer Zeit hätte er sich den ersten Faustschlag eingefangen. Die Vetteln riskierten nichts. Wir sind Frauen, wir sind unberührbar.
Sie lernten das auf dem Schulhof, sie lernten das im Heranwachsen, und am Arbeitsplatz, da mussten sie das nicht mehr lernen, da praktizierten sie es. Auf dem Schulhof standen sie zusammen und kreischten und tratschten, die üble Nachrede, das freie Erfinden von Geschichten über diese über jenen war ihnen Pausenbrot. Heranwachsend streiften sie nachmittäglich im Rudel durch die Einkaufsstraßen, und wenn sie dann betrunken auf die Straßenbahn warteten, zur Heimfahrt, sangen sie laut, kreischten gellend, lachten und höhnten, und jeder wusste, ja nicht hingucken, ja nicht die aufmerksam machen. Die wollen, dass hingeguckt werde. Sie fühlten ihre Stärke wachsen mit der Größe des Rudels. Wir sind Frauen, uns kann nichts passieren. Wir können uns aufführen wie wir wollen, es kann uns nichts passieren. Wir sind Frauen, wir sind unberührbar. Am Arbeitsplatz, im Betrieb bildeten sie die gleichen Frauenrotten, mit unbeirrbarem Mitmachzwang, bei übler Nachrede zum Beispiel. Hatte irgendwo einmal ein Frauenrudel sich zusammengefunden, verweigerte keine Frau mehr sich dem Mitmachen. Irgendwann ging es gemeinsam gegen eine Kollegin, gegen einen Kollegen, bis hin zu Unterschriftensammlungen. Die Betroffenen waren dann die letzten, die davon erfuhren, es war eine Mauer des Schweigens um die Rudel, nichts sickerte heraus, der Außenstehende merkte noch nicht einmal, da ist was im Gange. Der Junge, als Dienstvorgesetzter, lernte, die Augen offenzuhalten, und wurde doch immer wieder überrascht von dem, was unvermerkt sich zusammengebraut hatte. Das Triumphleuchten in den Augen der Packmitglieder war unübersehbar und unverkennbar. Wir sind Frauen, uns kann nichts passieren. Wir sind Frauen, wir bekommen recht. Und immer wieder rannten sie zur nächsthöheren Macht, diese ins Feld zu führen, gegen diesen gegen jene. Ich bin jetzt reingegangen und hab mich über den beschwert! triumphten sie. Reingegangen, das meinte stets: ins Zimmer der nächsthöheren Macht. Im Zimmer der nächsthöheren Macht saß dann zuweilen hinter seinem Schreibtisch der Junge und musste sich mit der Sache befassen. Wurde der Denunzierte befragt, war der ahnungslos und hatte Mühe, die Fäden zu entwirren. Wovon reden die eigentlich? Das Rudel aber wusste, wir können frei erfinden, was wir wollen, ganz egal, uns passiert nichts, wir sind Frauen. Das Konzept, wegen einer frei erfundenen Anklage eventuell zur Rede gestellt zu werden, existierte nicht. Es wurde dann lahm gesagt, höheren Orts, die Beschuldigung hat sich nicht bestätigt. Oder gar: hat sich nicht erhärtet. Der Gedanke, bewusste Falschbeschuldigung solle vielleicht Folgen nach sich ziehen, kam gar nicht erst auf, der Junge wurde angeschaut mit verlegen wischendem Blick, wenn er Nachhaken anregte, er ließ es dann bald, die Rudel erwarteten nichts anderes. Wir sind Frauen, wir können machen was wir wollen, uns kann nichts passieren. Selbst die gemeinsame Verabredung zu gemeinsamer bewusster Falschbeschuldigung hatte keine Folgen. Wir sind Frauen, uns kann nichts passieren.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Abschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)