Waldemar kroch halb unter Magdalenas Rock, hielt sich an ihren nackten Beinen fest und beschaute so, aus sicherer Hut, die Parentes.
Und sie kamen, alle. Die Nacht war hereingebrochen, mit ihrem kühlen Hauch, ihren Geräuschen, ihren samtenen Schatten unter dem Mond; und dies war die Zeit des Feierns, der Zusammenkunft.
Man hatte Tische und Bänke in die Große Halle gebracht, Kienspanfackeln entzündet, und Reinhard persönlich setzte den gemauerten Ofen in Gang, der hinten stand, in der sich rundenden Verlängerung des Hauptschiffes, dort, wo Vautrin ursprünglich einen breiten Steintisch hingestellt hatte. Reinhard hatte gefunden, dass sich gerade dieser Ort gut für den Herd eignete, da sich der Kamin bei einem der Bogenfenster, die den oberen Teil des Mauerrunds durchbrachen, ins Freie leiten ließ; so hatten sie den Steintisch in die Mitte der Halle gewuchtet, auf dass bei Festen die hölzernen Tische und Bänke rundherum aufgestellt werden könnten, und so war es gut.
Gabriele erschien, und zwei andere Frauen, mit Körben beladen; und am Herd hub an ein gewaltiges Kochen, ein Rühren und Braten, Mischen und Schmecken, Wässern und Würzen, dass bald der Raum erfüllt war von Gerüchen, die schwebten durch die Halle, wanden sich um die seitlichen Pfeiler und besuchten die Schatten, die unter den Wänden schliefen; und sie stiegen aufwärts in das dunkle Gewölbe, in das nur von Zeit zu Zeit von den Fackeln ein flackernder Schein drang.
Wie warm es wurde! Der Ofen glühte, die Speisen krachten und zischten, und Gabriele und die Frauen standen im Schweiß und lachten und riefen nach Gewürzen und Mehl und dieser Zutat und jener und schrien nach dem hageren Großvater, er möge noch eine Fackel beibringen, damit man doch etwas sehen könne, und der Großvater sprang und brachte das rötlich rußende Geflacker und stahl vom Herd und wurde auf die Finger geschlagen und rächte sich, indem er die Frauen in die runden Hintern kniff, bis er mit Gekreisch und Wasserspritzen gescheucht wurde, und dann wackelte er mit dem Kopf und dachte bei sich, dass er doch noch ein Kerl sei, und er fing an zu prahlen und zu zwinkern und die Augen zu rollen und stieß Grand Mère mit dem Ellbogen in die Rippen, und Grand Mère kicherte und zwinkerte zurück, und die Verwandten schwätzten und lärmten und besprachen die Fremden und erzählten und ließen sich erzählen, alle durcheinanderredend, und gruben Geschichten aus, die sie kannten, und das waren nicht wenige, und die dicken Katzen hockten in halber Entfernung vom Herd und warteten, dass etwas für sie abfalle, und Reinhard war dick und schwer vor Hausherrlichkeit und Wohlwollen und schwitzte und strahlte mit rotem Gesicht, und die Holzscheite im Herd krachten und knackten.
Wie sie sich freuen, dass wir sie besuchen! dachte Waldemar mit halbem Bewusstsein. Er umschlang Magdalenas Bein mit beiden Armen und spürte ihre Wärme an seiner Wange und die Härchen, fast schlief er ein, und Magdalena stand ruhig und lächelnd und fest und redete mit den Verwandten und freute sich.
Da war Reinhards Familie: Gabriele, die am Herd schwitzte, und Reinhard selbst und der lange Dagobert, der am Herd hüpfte und kicherte und immer wieder begeisterte Blicke zurückwarf, ob die kleine Anjela auch da sei und sich mitfreue; und der eine übriggebliebene Klient, der noch Junggeselle war und nörgelig und die Weiber verachtete; und dann der der andere Klient, der ein Gesicht hatte wie eine dicke runde Tomate mit einem handlichen Griff auf jeder Seite und einem Lächeln, das von einem Ohr zum anderen führte, und zwei Augen, deren eines stets die kleine Anjela im Blick zu halten suchte und deren andere ihre Mutter, die schwarzhaarige Gisela, die gerade mit Inge ein Gespräch führte, indem beide gleichzeitig redeten und dazu noch auf dem Herd hantierten; und dann war da Raben, das Oberhaupt der der zweiten Familie, ein blasser, unfroher Mann, der jetzt doch mitlächelte, weil er nicht die Stimmung stören wollte; und Rabens Frau, die aus der Aschenglut weissagen konnte, wenn sie einmal ihren Redestrom unterbrach, und die außerdem schielte, dass sie im Sommer Frühling und Herbst gleichzeitig sah; und Rabens Tante, so alt wie Grand Mère, doch knochig und armeschleudernd, dass sie recht gut als Dagoberts Großmutter hätte gelten können; und dann zwei Schwestern in mittleren Jahren, doch noch wohl zu brauchen, mit stämmigen Beinen und runden Hüften und roten Äderchen auf den Wangen, und Händen wie Schaufeln, Schwestern, deren eine lange und vergeblich den übriggebliebenen Klienten aus Reinhards Familie umworben hatte – immer hatte er bestimmt nicht widerstanden, auf der Kuhweide am Waldrand und in der warmen Kammer zur Nacht! – und deren andere mit dem einen und einzigen männlichen Klienten aus Rabens Familie das Bett teilte.
Das waren sie, die Bewohner von Reinhards Dorf; und zusammen mit dem hageren und hinternkneifenden Großvater waren sie vierzehn Personen, und sie schwätzten und lachten und schwitzten und freuten sich auf das Essen und über die Gäste und über die Geschichten, die sie hörten und hören würden und die sie in ihrem Gedächtnis würden aufbewahren können für eine lange Zeit.
Und dann ruft Gabriele zum Essen. Es gibt ein ziemliches Durcheinander, bis alle ihren Platz gefunden haben, auf vier Tische verteilt, rund um den polierten Steintisch in der Mitte der Halle. Die Fackeln, seitlich an den Pfeilern hängend, zischen und rußen, und der Herd dröhnt. Der Großvater und Reinhard höchstpersönlich und Gabriele und die beiden Schwestern schleppen das Essen herbei: vier Bottiche mit Kartoffeln und Blumenkohl und Erbsen und Karotten und Eiern und Pilzen, paniert und gebuttert und gebacken, und allerhand Gemüse und Gewürze daruntergemischt, und dazu auf flachen Holztellern Stapel aus gebackenen Teigfladen und ausgeschnittene Ecken jungen Käses, und Schüsseln mit Quark, in denen der gehackte Schnittlauch schwimmt, und der Großvater versucht aus lauter Scherzhaftigkeit noch im Laufen und Tragen davon zu stehlen und wird wieder auf die Finger geschlagen und lacht und bekommt einen roten Kopf, so jugendlich fühlt er sich. Die Bottiche werden auf die Tische gewuchtet, die Bewaffnung mit Holzlöffeln ist bereits allgemein, der Blumenkohl und die Steinpilze darunter dampfen und duften betörend, während die Kartoffeln die Backhitze noch wahren, um sie beim Aufbrechen als gläsernes Dampfwölkchen steigen zu lassen, zweiundzwanzig Mäuler wässern, Waldemar ist wieder wach geworden und findet sich zwischen Anjela und dem guten König Dagobert sitzen, und Magdalena sitzt am anderen Tisch und lacht gerade über irgendetwas und hat blitzende Augen und sieht aus wie ein Mädchen, obwohl sie doch eine bereits erwachsene Tochter hat, und Roger ist mitten in einer Geschichte von seinen Abenteuern und prahlt, dass es kracht, den Blick fest auf den Bottich geheftet, und der Großvater zwinkert und platzt fast vor Kichern und Jugendmut und krempelt sich die Ärmel hoch und lässt die Zunge aus dem Mund hängen, um Grand Mère zum Lachen zu bringen, und des bleichen Raben Augen flitzen auf einmal unruhig, als habe er Angst, nicht genügend abzubekommen, und Inge ist froh, dass Roger nicht neben die schwarzhaarige Gisela gesetzt worden ist, und behält ihn gleichwohl scharf im Auge, und Rabens Frau späht nach Frühling und Herbst, und oben, über dem Gewölbe, im Dachfirst, ist Unruhe, denn die Fledermäuse sind aufgestört, und der Fuchs, der gerade die Straße überquert, wirft einen forschenden Blick auf die Fenster der Großen Halle, aus denen flackernder Lichtschein dringt und Lachen und Lärmen, und dann erhebt sich Reinhard, wischt sich die Schweißtropfen von der Stirn, tritt von einem Bein aufs andere und sagt kraftvoll:
„Ja … also …“
Einundzwanzig Holzlöffel werden in der Schwebe gehalten. „Ruhe, er will was sagen“, wird ringsum gemurmelt.
„Was?“
„Reinhard will was sagen.“
„Ach so.“
Reinhard steht da und fühlt, jetzt gilts. Er sagt:
„Vautrin hat uns mit Gästen gesegnet, auf dass wir mit ihnen essen und ihre Geschichten hören und sehen, dass die Welt bevölkert ist und Menschen leben von einem Land zum anderen und Kunde voneinander haben, und wir sehen es und hören es, und die Last der Einsamkeit ist von uns genommen und die Angst wird ihren Platz nicht bei uns haben, und wenn der Winter kommt und die Kälte des Alleinseins, werden wir zusammenrücken und bei uns wissen, dass gute Stätten zu leben sind ohne Zahl in der Welt, und dass überall die Menschen um ihre Feuer zusammenrücken und einander gedenken, dass sie nicht allein sind in den Orten, die Vautrin geschaffen hat. Und die Kälte wird keinen Platz bei uns haben. Deshalb essen wir mit den Fremden, den Gästen, die unser Herz erfreuen, und werden ihrer gedenken stets und immerdar, damit unsere Wohnungen auch ihre Wohnungen seien, und damit sie die Kunde von uns hinaustragen in die fremden Städte, auf dass die Menschen von uns wissen und unser gedenken. So sage ich. So möge es sein.“
„So möge es sein.“ Die einundzwanzig Holzlöffel werden klappernd auf die hölzernen Tischplatten geschlagen, dass die Fledermäuse aufflattern und der Fuchs in einem Kellerloch verschwindet. Und Reinhard setzt sich, mit rotem Gesicht und zufrieden, und am anderen Tisch steht Aslan auf und hebt an mit Würde:
„Auch uns hat Vautrin gesegnet, denn gelenkt hat er unsere Schritte und uns geführt zu diesem guten Ort und zu diesen guten Menschen, die uns aufgenommen haben, auf dass wir mit ihnen essen und ihre Geschichten hören und uns ihrer erfreuen und die Kunde von ihnen tragen von einem Land zum anderen, wo Menschen leben in den Orten, die Vautrin geschaffen hat. Vieles hat meine Familie gesehen, und die Kraft unserer Ochsen hat uns getragen in manche Länder und zu vielerlei Orten, und überall haben wir gekündet, dass die Welt bewohnt ist von einem Land zum anderen. Und deshalb sitzen wir hier und empfangen die Wohltat eurer Gastlichkeit, damit wir davon berichten können und zu wissen geben, dass jede Fahrt im schaukelnden Karren, durch fremdes Land, ihr Ziel findet und einen Ort, wo gute Menschen hausen und Heimstatt bereiten, so dass die Fahrten nimmer enden und dass, wer immer aufbricht, der Ankunft gewiss ist. So sollen die Mauern eurer Wohnungen fest sein und eure Feuer nie verlöschen … und mögen die Menschen sich mehren nach Vautrins Wunsch und ihrer Heimat sicher sein und voneinander wissen, dass die Angst ihren Herzen fernbleibe und die Einsamkeit sie nicht beschleiche, und Kunde werden wir geben immerdar und an welche Orte wir kommen. So sage ich. So möge es sein.“
„So möge es sein. Wir danken.“ Und erneut dröhnen die Tischplatten.
„Ja …“ meint Reinhard. „Also dann …“
Und zweiundzwanzig lange Holzlöffel in zweiundzwanzig rechten Händen fahren in die vier Bottiche und bekriegen den Inhalt, dass er vergeht wie eine Eisscholle im Frühling: hoffnungslos dahintauend, in der Mitte die breite und behäbige Masse, und von allen Seiten herandrängend, nagend und schlürfend, gefräßige kleine Wellen, unterminierend, kerbend, höhlend, ein Fitzelchen nach dem anderen mit sich reißend, bis der Berg nachgibt, ächzend zusammenfällt, in viele kleine verstreute Bruchstücke sich auflösend, bis auch die verschwinden, ein Spielball den Wellen.
Ernst und Konzentration liegt auf den Gesichtern, Schweiß muss abgewischt werden. Man würde nicht fehlgehen, auf Rabens Gesicht eine gewisse Verbissenheit auszumachen. Die zweiundzwanzig Löffel arbeiten sich durch die Materie und führen die Beute zu zweiundzwanzig kauenden Mündern, unter zweiundzwanzig Augenpaaren, deren Blick gebannt ist – verzaubert – gefesselt – von dem schwindenden Nahrungsberg in der Mitte des Tisches. Einzig der lange Dagobert lacht gelegentlich krähend auf und schaut kontaktsuchend um sich, wenn sein ungeschickt geführter Löffel einem anderen ins Gehege kam; es gibt dann einen kurzen Kampf, und der andere bleibt Sieger, weil Dagobert stets höflich und im Willen, geliebt zu werden, den Rückzug antritt. Auf diese Weise würde er hungrig bleiben, aber Gabriele legt ihm einen der breiten gebackenen Fladen vor die Nase und häuft darauf eine zureichende Portion von dem Berg im Bottich, und damit kann er sich nun befassen. Er würde aber lieber mit den anderen aus dem Bottich essen und zu kurz kommen, es betrübt ihn, ausgeschlossen zu sein.
Waldemar hält sich wacker. Es ist nicht sein erstes Gastmahl, das er bestreitet, wahrhaftig nicht, und er hat noch nie die Schlacht verloren. So holt er mit kurzem Arm tapfer aus, schwingt den Löffel und schlägt den Feind, und Anjela neben ihm tut desgleichen. Sie zeigt einen tückischen Ausdruck in dem hellen Kindergesicht, sie will nicht nur ihr Teil haben, sie will auch anderen etwas wegnehmen, sie schafft es noch nicht, aber wartet nur, bis sie größer ist, noch muss sie sich mit dem guten König Dagobert begnügen, ihn zu beherrschen, aber andere werden kommen, wartet nur … Die Nase des hinternkneifenden Großvaters ist ganz spitz vor Anspannung, der Kopf tief gebeugt, so dass er statt seines Gesichts nur die gerötete Altmännerglatze bietet, mit den spärlichen, nach hinten gestrichenen grauen Haaren; und gelegentlich schnüffelt er und wischt sich den Schweiß, aber er hält nicht inne. Und selbst Rabens schielende Frau zielt und trifft unverbrüchlich; ihr Gesicht ist vollkommen leer, die kauend auf und ab bewegten Falten sind Materie, die Materie verschlingt. Und die beiden Schwestern, die nebeneinander sitzen, haben die Angewohnheit, bei jedem Bissen, den sie dem Munde einführen, einen schnellen vogelscharf schwarzen Blick über den Tisch zu werfen, ohne jemanden besonders anzusehen, und sogleich die Augen wieder niederzuschlagen.
Und die Löffel klappern, gelegentlich wird ein bisschen an einer Bank gerückt, und das feuchte Geräusch des Schmatzens erfüllt die Halle.
Und dann kommt das Ende. Da jeder weiterisst, so lange sich noch Nahrung im Bottich befindet und solange der Nachbar noch kaut, hören alle schlagartig und gemeinsam auf; und das Klappern und das Kauen und Schmatzen und das Rücken endet wie abgeschnitten, für eine Sekunde ist das Schiff der Großen Halle erfüllt von dumpfer Grabesstille, wie im Auge eines Orkans; und dann bricht der zurückgehaltene Tumult los, zweiundzwanzig Münder öffnen sich gleichzeitig und beginnen gleichzeitig aufeinander einzureden, ohne Hast werden die gebackenen Fladen verteilt, es reicht für jeden, zerrupft werden sie unter dem Reden und Lachen und in die bewegten Münder gesteckt, und Gabriele und die Schwestern und Reinhard und der hurtige Großvater gehen und tragen die Bottiche beiseite und bringen stattdessen große Schalen mit Wasser, ein jeder taucht die Hände ein und macht die Bewegungen des Waschens und verspritzt dabei ein paar Tropfen über den Tisch und sagt dazu, „Vautrin sei mit euch“, wobei er flüchtig alle Anwesenden überschaut, und man atmet auf und tauscht die Ansicht, dass „Essen doch die schwerste Arbeit“ sei, und schnalzt mit der Zunge und lobt Gabriele, und rülpst und streicht sich den Bauch und lehnt sich zurück und streckt die Beine.
Dann beginnt wieder Geschäftigkeit am Herd, und Aufmerksamkeit erwacht, wo nicht gar Spannung, denn nun ereignet sich Wesentlichstes: Reinhard persönlich legt Hand an, gibt Holzscheite nach in das flackernde Ofenmaul, dass es drinnen aufbrüllt, und dann wird ein großer, beuliger, vielfach geflickter bronzener Kessel auf den Herd gehoben.
Niemand bleibt sitzen. Alle scharen sich murmelnd im Halbkreis hinter Reinhard zusammen, und schauen, und lecken sich die Lippen. Vier irdene Krüge werden herbeigetragen, mit eng geschwungenen Hälsen, ein jeder mit einem Deckel, der mit einem Wachswulst versiegelt ist. Reinhard ergreift ein Messer und erbricht die Versiegelung, sorgsam die Wachskrümel in einer Holzschale sammelnd, und dann hebt er die runden Tondeckel ab.
Fruchtgeruch bricht heraus betörend.
Beifallsgemurmel und Ächzen erfüllt die Halle, der vorjährige Brombeerwein schäumt und zischelt noch verschämt, und Reinhard packt die erste Amphore am Hals und der Großvater hebt den Boden, und dann wird der Inhalt in den Bronzekessel geleert, es gluckert und sprüht, das irdene Gefäß ergießt seinen Inhalt in tiefrot glühendem Bogen in die widerklingende Bronze. Nicht lange, und der Kessel beginnt zu bullern und zu rumpeln, und die zweite Amphore wird geöffnet, und das Dunkelrot vermischt sich lieblich den silbernen Dampfschwaden, die nun aufsteigen, und die dritte und vierte Amphore folgen. Reinhard hantiert rasch, doch mit Bedacht und geübt. Ein Gewürz da, ein anderes dort. Noch etwas Nelke? Hmm … Honig. Honig. Die kristallierte gelbe Masse schwindet und schmilzt im Dampf und fällt in schweren goldenen Tropfen hinunter in das dunkle Gebrodel. Der Duft wird betäubend, die Zuschauer rücken zusammen und vermögen es kaum zu erwarten. Vorsicht … Vorsicht. Das Gebräu wird plötzlich beängstigend still, nur erfüllt von einem gleichmäßigen Dröhnen. Weg damit von der größten Hitze, dass es nicht anfängt zu kochen! Und Reinhard und der Großvater packen zu, mit lappenbewehrten Händen, und schieben den Kessel beiseite, und das Dröhnen beruhigt sich. Jetzt einen Deckel darauf, damit es ziehen kann. Fünf Minuten. Der Herd röhrt und rumpelt vor sich hin. Die Fackeln rußen, und die Luft ist zum Schneiden dick, Schweiß tritt aus den Poren, was macht das schon. Die Spannung wird beängstigend. Da! es ist soweit. Reinhard tritt heran, mit großer Gebärde, und hebt den Deckel. Eine Dampfwolke stürzt empor, wie eine geballte Faust, und zieht geschwind nach oben, sich verteilend und verflüchtigend. Der Duft! süß und schwer, er breitet sich aus wie ein schläfriger, nachtwarmer Körper, und umfängt die Gemüter wie ein träger Nebel …
Her damit!
Die Trinkbecher werden gebracht, aus Horn, aus Metall, aus Holz, einer, ein einziger, aus schwerem gehämmertem Silber, der gehört Reinhard. Und Reinhard packt die Schöpfkelle und misst alle voll, sachte sachte, kein Tropfen soll daneben gehen, und um ihn steht die Runde, in respektvollem Abstand, als walte ein wehrender Zauber, und der schäumende, fließende Rubin füllt die Gefäße, und dann …
Zitternde Spannung.
Reinhard hebt sein Gefäß, das silberne, legt die Schöpfkelle beiseite. Einundzwanzig Augenpaare sind gebannt auf ihn gerichtet. Er neigt den Becher, nimmt einen Schluck. Kaut die Flüssigkeit, gläsernen Auges, nach innen gewandt. Dann vollzieht sein Adamsapfel eine hüpfende Bewegung, und Reinhard steht da und horcht nach innen und fühlt, wie der Schluck im Magen ankommt. Er hebt den Kopf, dann den Becher, und sagt strahlend: „Vautrin ist mit uns.“
Kein Halten mehr.
Im Nu sind die Gefäße verteilt, werden zutrinkend gehoben, zweiundzwanzig Münder sagen ein über das andere Mal, „Vautrin sei mit dir, und mit dir, und mit dir …“, und das Gebräu beginnt zu fließen.
Erster Schluck. Zunächst Wärme, dicke, schwere Wärme, dann fließende Süßigkeit, in Dunkelheit gehüllt, an deren Hintergrund etwas Schärfe ist, ein ganz klein wenig Spitze, aber nicht zuviel, und noch weiter hinten, in den tiefsten Tiefen der Dunkelheit, eine ferne grundierende Ahnung von Bitternis, gerade recht, um die Schärfe, die Spitze, zu tragen und zu halten, dass sie nicht falle … und dann entfaltet sich, groß und rubinrot, die gläserne Süße, in wässernde Ströme fruchtender Säure getaucht, dass der Atem schwindet und das Bewusstsein stille steht, und dann rollt der Schluck, der uferlose, hinab in den Schlund, im hintersten Gaumen eine sich verbreitende Spur von samtener Rauheit hinterlassend, von schmeichelnder Pelzigkeit, und rinnt die Speiseröhre hinunter, dass eine Gänsehaut das Rückgrat aufwärts kriecht und Tränen in die Augen treten, und landet mit sachtem Schwung im Magen, sich sofort verteilend, verbreitend, ausdehnend, dass Wärme entsteht, Schlaffheit und zugleich genüssliche Anspannung, die steigt hinauf und macht weich den Nacken und die Armmuskeln, und sie klettert weiter empor in den Kopf und lässt den Kiefer herabsinken und die Lippen schlabberig werden und verdichtet sich zu einem Wort, das Wort rollt sich auf zweiundzwanzig Zungen zusammen wie eine dicke schwarze, geschmeidige Katze, und gähnt und reckt sich, und dann öffnen sich die Münder, und das Wort fällt behaglich staunend heraus, und entfaltet sich, und heißt:
„Donnerwetter!!!“
Die Befriedigung ist ungeheuer, Zungen schnalzen, gespitzte Lippen schlürfen, Daumen und Zeigefinger werden zu in der Luft geschwenkten Kreisen gerundet, aneinandergeschlagene Becher knallen, und der Duft ist inwendig wie auswendig.
Dann werden die Bänke gerückt, fort von den Tischen, hin vor den Herd, wo der brodelnde, köstliche Kessel steht. Der Großvater sitzt schon auf dem Boden, an einen Pfeiler gelehnt, und hat selige Augen, und der bleiche Raben bekommt etwas Farbe, und die schwarzhaarige Gisela hüpft umher wie ein Bällchen und plappert ohne Ende, und die drei Kinder werden schläfrig, so schläfrig, und spüren, dass ihnen der Kopf wirbelt.
Endlich muss der ledige Klient gehen, hinaus auf die Weide, zu den Ochsen, ein Feuer entzünden und Wache halten, und Reinhard füllt ihm einen kleinen irdenen Krug, den gibt er ihm mit zur Wegzehrung, damit er da draußen nicht so allein sei, und die ledige Schwester mit den ausladenden Hüften, die noch wohl zu brauchen sind, schaut seufzend und macht lange Augen und blickt dem Klienten nach, nein, er wird wohl nicht allein bleiben in der Nacht mit den Ochsen und einsam das Feuer hüten …
Gabriele setzt sich auf die Bank neben Magdalena und schaut neidisch auf die hellen Beine und glatten Hände ihrer Nachbarin. Ach, seufzt sie, das sei doch was anderes, der Kaufmannsstand, nicht so wie wir Dörfler, die den ganzen Tag auf dem Feld und in den Ställen schaffen müssen und der Sonne ausgesetzt sind und dem Regen und runzlig werden und rissige Hände bekommen … Magdalena antwortet weise, es habe ein jeder Stand seine Last, und Grand Mère nickt dazu und sagt jaja und nimmt noch einen Schluck, und Magdalena, die gut und zärtlich, schlingt ihren Arm um den Gabrieles und meint: „Alt werden wir alle, Vautrin will es so“, und Gabriele seufzt tief und nickt und sagt nichts, und die beiden Frauen sitzen da, Arm in Arm, und schauen auf den rumpelnden Herd.
Der unfrohe Raben, dem die Zunge schon schwer wird und die Augen immer hohler, spricht mit Roger und redet und fragt ihn: „Und wohin wollt ihr eure Wagen lenken, sag mir das, Bruder Roger, ich wüsst es gern …“ Roger macht ein todernstes Gesicht und antwortet gemessen: „Nach Westen, Bruder Raben, wir werden uns immer nach Westen halten, durch Frankreich, das Vautrin gesegnet hat, hindurch und in die Ebene hinein, wo die große Stadt Paris liegt. Und dann wollen wir überwintern, bei Verwandten, die wir dort haben, und des nächsten Frühlings, den Vautrin uns schenkt, wollen wir weiterziehen und uns wieder nach Westen wenden, immer nach Westen, bis wir zur Küste kommen. Und dort, an den grünen Gestaden des unendlichen Meeres, merk auf, Bruder Raben, wollen wir übersetzen, auf die andere Seite, dort, wo die weißen Klippen aus den Wogen ragen seit alters her, so wie sie Vautrin gesetzt hat, und dort wollen wir landen mit unseren Wagen und England besuchen, die Insel, die regengrüne, dass wir unsere Geschäfte treiben und von den Menschen berichten auf dem Land, und wieder zurückkommen und Waren mitbringen von der Insel, die Vautrin gesegnet hat, und von ihr berichten und euch erzählen, dass ihr erstaunen möget und euch freuen an den Geschichten, die wir wissen werden. Und …“
Er unterbricht sich, denn Raben scheint plötzlich glockenwach geworden zu sein, und fragt: „Was gibt es, Bruder Raben?“
Raben antwortet: „Das ist wirklich wahr, du willst nach England mit den Deinen?“
„Jaja“, sagt Roger, „warum nicht? Weit sind die Wege des Kaufmanns und keine Grenzen gibt es seinen Fahrten …“
„Hast du gehört?“ brüllt Raben zu Reinhard hinüber, der mit schwerem Gefälle am Ende einer Bank hockt und mit Aslan diskutiert. „Hast du gehört? Sie wollen nach England.“
Reinhard muss seine Augenlieder hochkriegen, und dann braucht er noch einen Moment um zu begreifen, aber endlich fasst er es, wird munter, schaut Aslan an und sagt: „Ist das wahr? Ihr wollt nach England?“
Aslan ist erstaunt und sagt milde: „Das ist so, Bruder Reinhard. Was berührt dich?“
Und Reinhard schwingt sich empor, alle sind still geworden und horchen, die Becher in der Hand, und Reinhard sagt: „Vautrin hat euch zu uns geführt. Es kann gar nicht anders sein. Sage uns, Bruder Aslan, ist auf euren Wagen noch Raum für eine Person, oh, eine kleine, nicht viel Platz beansprucht sie — ein Kind …“
„Ein Kind?“ fragt Aslan verblüfft. „Wir sollen ein Kind mitnehmen? Aber worum geht es? Du sprichst in Rätseln, Bruder Reinhard. Erklär dich näher, ich bitte dich.“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht auf dieser Seite 04.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)