Die Dämmerung fällt ein.
In den drei Häusern bei der Großen Halle wird Licht entzündet, und lebhaftes Umtun und Lärmen zeugt von der Freude, die die Ankunft der fremden Gäste gebracht hat.
Ein Dachs überquert die Straße, die schwarze Schnauze am Boden, und verharrt für einen Augenblick, dem Reden und Lachen zu lauschen; dann setzt er seinen Weg fort und verschwindet auf der anderen Straßenseite im Ruinengewinkel.
Ein paar Häuser weiter ist ein Fuchs erwacht und macht sich scheu und unter nervösem Spähen auf, nach Beute zu suchen; wenn der Mond aufgeht, werden bei den Brombeersträuchern und in den offenen Höfen Igel rascheln ohne Zahl. Aus Dachgebälken und leeren Fensterhöhlen steigen Käuzchen auf, um Mäuse zu jagen, und um den östlichen Dachfirst der Großen Halle ist Geflatter und wilder Zickzackflug: die Kolonie Fledermäuse, die dort wohnt, ist zu ihrem abendlichen Jagdflug ausgeschwärmt.
Auch die Katzen – riesig und halbwild -, die mit den Menschen zusammenleben, ohne ihnen untertan zu sein, steigen, gähnend erst und ziellos, dann gespannt, hinunter in die Schatten der Höfe und Kellerlöcher, und die Ratten zittern in ihren Winkeln.
Am Teich plätschern die Frösche unter warten auf den Mond, ihn zu bequaken.
Wohlhabend ist Reinhards Dorf und fest gegründet.
Zehn Jahre erst ist es her, da kam Reinhard auf einer Fußwanderung des Winters durch diesen Ort und beschaute ihn sich näher, und das war kein Zufall, Reinhard war unruhig geworden, er dachte an Vautrins Gebot, dass die Menschen sich mehren sollten und die Städte und die Orte besiedeln, und so hatte er sich aufgemacht, sein Schicksal zu erkunden.
Damals hatte er mit seiner Familie noch in einem Ort am Fluss gewohnt, zwei Tagereisen entfernt, und dieser Ort war gesegnet durch Kinder unter durch Zuzug, so dass bald vier Familien darin lebten, sicher und einander zugetan; und da waren Reinhard und seine Frau übereingekommen, sich aufzumachen und neue Wohnungen in Besitz zu nehmen.
Eines Wintertages, da die Arbeit ruhte, war er losgezogen, mit reichlich Proviant versehen, hatte Nachbarorte besucht, mit den Menschen geredet und sich umgetan, hatte sich durchgefragt und die stillen Siedlungen abseits im Schnee besucht. In Höfen und lautlosen Straßen hatte er gestanden, tief im Schnee, und nichts rührte sich, der Wind nur regte dünne Halme, und Spuren sagten, dass ein Fuchs entlanggeschnürt sei: unter grauem Winterhimmel. Tagelang war er gewandert, wattig knitternder Schneetritt, hatte nach Rauch über den Orten geschaut und nach dem leichten Dunst, der über bewohnten Häusern und Ställen aufsteigt; und öfter war kein Ton zu hören gewesen.
Und eines Abends hatte er dann diesen Ort gefunden; still lag der unter grauem Abendhimmel, in der Nacht würde es schneien. Reinhard stieg herab von den Höhen und suchte sich einen Weg ins Innere, dorthin, wo der Turm der Großen Halle ragte – schläfriger Schäfer, weidend seine Herde -, kletterte über Trümmer und Schutt, mit Bedacht, im Schnee nicht fehlzutreten, und fand sich endlich durch zum Dorfplatz. Dort sah er, dass die Häuser fest und bewohnbar seien und leicht wieder herzurichten; er drang ein, schaute in die kalten Räume mit dem verfallenen Mobiliar, stieg mit Herzklopfen brüchige Stiegen hoch und prüfte knarrende Fußböden; dann richtete er sich im Erdgeschoss her zur Nacht.
Am nächsten Morgen fühlte er sich fast heimisch; der Schlaf einer Nacht schon hatte dem Haus flüchtiges Leben verliehen. Er schaute noch einmal im Tageslicht, fand die Mauern fest gebaut und die Böden stabil; auch stand im Keller kein Wasser.
Den Rest des Tages verbrachte Reinhard, die Umgebung zu prüfen; er untersuchte die offenen Felder, die Böden, stellte sich im grauen Winterlicht vor, wo im Sommer der Sonnenschein liegen möchte; und endlich sah er, dass es ein guter Ort war.
Beim ersten Hauch des neuen Jahres, als die Frühlingsstürme heulten, packte Reinhards Familie den Karren und machte sich auf den Weg; zwei Klienten schlossen sich an, so dass sie mit Reinhards Frau und dem alten hageren Großvater fünf Personen waren. Das Vieh ließen sei zurück, in der Obhut ihrer Verwandten, im Sommer würde Reinhard wiederkommen und es holen, nur den schweren Ackergaul führten sie schon mit sich, der zog den Karren.
Noch am Tag nach der Ankunft begannen sie, das erste Feld zu roden, sie spannten das Pferd vor den Pflug, den hatten sie mitgebracht als kostbarsten Besitz, sie pflügten um den Acker, vorher hatten sie ihn abgebrannt, mühsam genug, denn das tote Vorjahresgestrüpp war nicht trocken gewesen, sie beseitigten Steine und Wurzeln.
Der Großvater ging und stach eine tiefe Grube aus, unweit der Großen Halle, und leitete den Bach hinein, dass ein Teich entstünde; die Klienten hämmerten und schlugen im Haus, deckten das Dach, hängten Türen ein, setzten den Kamin neu, versahen die Fenster mit Häuten, doch all dies erst, nachdem sie die Stallungen repariert hatten: die waren das Wichtigste, für das Vieh, wenn es im Sommer geholt werden sollte.
Es war eine harte Zeit. Des Morgens erhoben sich die Neusiedler, wenn der erste Streif fernen Lichts den Himmel färbte, und abends standen sie noch und hämmerten und räumten, wenn schon lange die Dunkelheit gefallen war und man die Hand nicht mehr vor Augen sah, und dann fielen sie auf ihre Lagerstätten, bekleidet wie sie waren, und schliefen, bleiern, hungrig, gequält.
Im Sommer machte sich einer der Klienten auf und ging zurück zum alten Dorf, das Vieh zu holen, Reinhard konnte nicht fort. Und der Klient ging und kehrte wieder mit den Kühen und den Hühnern und zwei Gänsen und Enten, und den Wagen vollgepackt mit Nahrung; und zwei Leute aus dem alten Dorf begleiteten ihn und schauten die neue Siedlung und halfen zwei Wochen, bevor sie wieder nach Hause wanderten.
Dann geschah es, dass Gabriele schwanger wurde, aus den hastigen und überreizten Begegnungen mit Reinhard, abends, wenn sie schon vom Schlaf der Erschöpfung umfangen waren; das Kind kam im Winter zur Welt, am Ende jenes ersten Winters, in dem sie beinahe verhungert wären, und es hatte gesunde Glieder, das Kind, nur schien es so teilnahmslos; sie nannten es Dagobert. Reinhard ging los und musste in den entfernten Dörfern um Hilfe bitten, und er wurde mit Nahrung versehen; auf dem Heimweg verirrte er sich, verzweifelte an seiner Rettung, kämpfte dennoch weiter. Er fand zurück und sah, dass das Kind noch lebte; er konnte erzählen, dass auch in dem Dorf, das er besucht hatte, ein Kind geboren worden war, doch hatte man es getötet, weil es keine Arme besaß und die Augen im Kreis rollten, immer im Kreis; und Gabriele weinte.
Dann kam das zweite Jahr, brachte nicht weniger Arbeit, und doch schon Hoffnung; und mitten während der Aussaat erschien eine neue Familie, mit Wagen und Tieren, die bat um Aufnahme; in einer furchtbaren Nacht, so erzählten sie, hatte der Fluss, an dem sie wohnten, nach wochenlangem Hochwasser sein Bett verändert und ihr Dorf, ihre Felder, ihre Wiesen, ihre Häuser, alles überspült und vernichtet. Sie hatten sich gerettet, weil sie die Katastrophe hatten herannahen sehen und rechtzeitig auf die umliegenden Hügel ausgezogen waren, um den Gang der Dinge abzuwarten, so waren sie jetzt hier, um sich eine neue Heimat zu suchen. Reinhard und seine Familie nahmen die Ankömmlinge auf mit offenen Armen, neue Wiesen wurden abgebrannt und gepflügt, Stallungen gezimmert, das zweite Haus gedeckt.
Im nächsten Winter, der schneidende, langanhaltende Ostwinde mit sich brachte, lebten beide Familien in Reinhards Haus, unterhielten den Ofen und horchten, eng aneinander und an die Kühe gedrängt, auf den Eissturm, wie er an den Wänden und unter dem Dach rüttelte; doch überlebten alle.
Und sie begannen, heimisch zu werden. Sie bauten die Stallungen aus, erschlossen neue Äcker, umzäunten die Wiesen, um ihre Kühe zu weiden; der alte schwere Gaul tat noch immer seinen Dienst, gestriegelt und umsorgt. Kiepenhändler erschienen im Ort, kleine Tauschgeschäfte wurden getätigt; dann kamen Gabrieles Verwandte zu Besuch und brachten Geschenke mit; und der Großvater zimmerte und sägte und leimte und baute Schränke und Tische und Stühle.
Endlich, im fünften Jahr, gebar eines der Mädchen, die mit der neuen Familie gekommen waren, ein Kind, ein gesundes Kind; sie nannten es Anjela, und Vater war der eine der beiden Klienten. Die Eltern beschlossen, eine neue Familie zu sein das dritte Haus wurde hergerichtet.
Schließlich konnte mit dem nächsten bewohnten Dorf eine Vereinbarung getroffen werden: gemeinsam wurden Schafe angeschafft, eine schnell wachsende Herde, und die Siedler gewannen Wolle und konnten ihre Lumpen ersetzen.
Im siebten Jahr hatten sie so viel Luft, dass sie die Große Halle säubern und notdürftig das Dach flicken konnten, denn dies ist Vautrins Befehl: eine große Halle hat er geschaffen in jedem Ort, mit hohem Turm, auf dass darin die Menschen zusammenkommen und ihre Feste feiern, mit Lachen und Gesang und Erzählen und Freude an den Dingen der Erde und des Lebens.
So wächst Reinhards Dorf, und der Mensch ist die Freude des Menschen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.01.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)